„Weißheiten“

Kommentar Der Kunsttheoretiker Robert Kudielka ist seit 1997 Mitglied der Akademie der Künste. In seinem für das Journal der Künste verfassten Text „Weißheiten“ untersucht er „Weiß“ hinsichtlich gesellschaftlicher, politischer und kunsthistorischer Merkmale
Wandstück (1992) | Karin Sander
Wandstück (1992) | Karin Sander

Foto: Karin Sander, VG Bild-Kunst, Bonn, 2021

Text von Robert Kudielka aus dem Journal der Künste 14, Akademie der Künste (Hg.), Berlin 2020

The remark that did him most harm at the club was a silly aside to the effect that the so-called white races are really pinco-grey. He only said this to be cheery, he did not realize that 'white' has no more to do with a colour than 'God save the King' with a god, and that it is the height of impropriety to consider what it does connote.

– E. M. Forster, A Passage to India (1924)

Farben sind an sich bedeutungslos. Erst im Zusammenhang, im jeweiligen Kontext der Erscheinung oder des Gebrauchs, lösen sie bestimmte Empfindungen aus und nehmen konkrete Bedeutungen an. Die Farbe Weiß scheint als Vorstellung über jede Emotion und gegenständliche Bestimmtheit erhaben, ein blankes Etwas, weswegen sie in den logischen Schriften des Aristoteles als Standardbeispiel für die Kategorie der Qualität dient. Aber in dem Kolonialroman A Passage to India von E. M. Forster löst ein Mr. Fielding im englischen Club einen Eklat aus, als er mit der Bemerkung aufwartet, die Farbe seiner Rasse sei nicht weiß, sondern „rosa-grau“. Die empirisch richtige, jedenfalls für die Gesichtsfarbe seiner Landsleute zutreffende Beobachtung ist offenbar „unschicklich“, genauso ungehörig wie die Frage nach dem Gott, der den König erhalten soll. Denn „weiß“ ist in dieser Gesellschaft die stillschweigende Auszeichnung von Wesen, die zum Herrschen bestimmt sind. Nicht einmal die Einsicht der Evolutionsbiologie, dass die Hautfarbe der Kaukasier in Wahrheit eine Mangelerscheinung ist, der Defekt der „depigmentierten Rasse“ (Gottfried Benn), vermochte dieses Vorurteil zu erschüttern. Der Glaube an die Überlegenheit der „Weißen“ kommt vermutlich von weiter her: aus der feudalen Welt, in welcher der blasse Teint den Adel, das göttliche Privileg, nicht arbeiten zu müssen, signalisierte.

Die Fragwürdigkeit des Attributs „weiß“ beschränkt sich freilich nicht auf das gesellschaftlich-politische Milieu. Auch im naturwissenschaftlichen Kontext ist Weiß ein sensibles Thema. Seit Newtons optischen Experimenten ist die Rede vom „weißen Licht“, das – durch ein Prisma geschickt in die Spektralfarben auseinandertrete, die ihrerseits, von einer Linse gesammelt, sich wiederum zu einem weißen Lichtstrahl zusammenschließen, Ursache einer anhaltenden Verwirrung. Das Licht mag intensiv oder schwach sein, mal hell, mal weniger hell aber es ist im strengen physikalischen Sinne nicht weiß: es sei denn, als Erscheinung in der Dunkelkammer des Experiments. Weißheit ist eine Sinnesqualität, keine physikalische Tatsache. Die Vermengung physikalischer Vorstellungen mit einem psycho-physischen Phänomen ist die Wurzel notorischer Schieflagen in der Farbtheorie. So schließt der Glaube, dass die Farbe Weiß alle Farben (auch die unbunten?) enthalte, von einer Eigenschaft der Lichterscheinung auf die Verfassung von Farben überhaupt. In umgekehrter Hinsicht hat Cézanne aus der Erfahrung des plein air-Malers den sinnlichen Eigenwert der Farbe mit geradezu brüskierender Deutlichkeit hervorgehoben: „La lumière donc n’existe pas pour le peintre.“ Für das Auge des Malers existiert das Licht nur als immanente Eigenschaft der Farben, in der Harmonie der Buntfarbigkeit insgesamt und in den Helligkeitsunterschieden der Einzelfarben. Erst in dieser radikal empirischen Hinsicht zeigt sich der besondere Farbcharakter von Weiß: die einzigartige Helligkeit, die sowohl blenden als auch die umgebenden Farben resorbieren kann und sich zur materiellen Aufhellung aller anderen Farben eignet.

Nichtsdestoweniger ist die Differenz zwischen Lichtelement und Sinnesqualität eine petitesse, eine Streitsache unter Experten, verglichen mit den widersprüchlichen Auffassungen von Weiß in der Alltagskultur. Die mittlerweile allgegenwärtig gewordene Werbung verspricht den Saubermenschen, dass Weiß die Farbe der Reinheit, der Frische und Unbeflecktheit sei. Aber das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Für den überwiegenden Teil der Menschheit, der im Mittleren und Fernen Osten lebt, ist das weiße Kleid primär dem Begräbnisritus zugehörig. Während im Westen seit dem Ausgang des Mittelalters Schwarz die Trauerfarbe ist, verbinden Muslime, Hindus und Buddhisten das Totengedenken mit der Farbe Weiß, dem „großen Schweigen“, das nach Kandinskys Auffassung „nicht tot ist, sondern voller Möglichkeiten“. Dieser Brauch scheint sogar der ursprünglichere gewesen zu sein; angeblich soll erst Queen Victoria die Weißheit des Brautkleids unter die Leute gebracht haben. Anfang und Ende des Lebens, Aufbruch und Abschied scheinen in dieser Farbe die entsprechende Empfindung zu finden. Damit gibt Weiß in äußerster Zuspitzung darin eigentlich nur dem aufdringlicheren Rot vergleichbar ein Skandalon des symbolischen Diskurses zu bedenken, das der Farbenwelt insgesamt zueigen scheint: nicht nur, dass Farben in unterschiedlichen Zusammenhängen verschieden wahrgenommen werden, nein, in ein und demselben Zusammenhang kann die gleiche Farbe entgegengesetzte Konnotationen annehmen. Wenn es eine Regel, oder besser: eine Etikette für das Verstehen von Farben gibt, dann ist es die Beachtung einander nicht ausschließender Widersprüche; und Weiß das Schulbeispiel schlechthin.

Die Kulturgeschichte ist voll von solchen Heimsuchungen der Vernunft. Zum Beispiel kennt bereits der römische Historiker Tacitus die weiße Fahne als Zeichen der Kapitulation von Legionären. Das hat die französischen Könige der frühen Neuzeit jedoch nicht davon abgehalten, unterm weißen Banner des Oberbefehlshabers Kriege zu führen. Das lokal begrenzte Brauchtum der Alten Welt hat sich wenig um Eindeutigkeit und Allgemeingültigkeit geschert. Papst Pius V. war vermutlich der erste, der 1570 im Missale Romanum, dem katholischen Messbuch, Farben definitiv und allgemein, dem „allumfassenden“ Anspruch der Kirche entsprechend, rituell festlegte: Weiß für die hohen Festtage der ecclesia triumphans, Schwarz für die Karwoche und Totenmessen. Sodann sind Goethes Ausführungen zur „sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben“ im didaktischen Teil seiner Farbenlehre ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Erforschung der kulturellen Wirklichkeit von Farben gewesen, selbst wenn er eine Konsequenz seiner Kontroverse mit Newton – die Wirkung der „Nichtfarbe“ Weiß schlicht außer Acht ließ! Erst im 20. Jahrhundert entstand mit der Farbpsychologie eine Forschungsrichtung, die den Anspruch der Deutungshoheit über alle Farben erhebt. Stark anwendungsorientiert, unterstellt sie der Farbwahrnehmung gerne ein Konsumverhalten und verfällt dabei der irrigen Annahme, Farben seien ein eindeutiges Angebot. Aber so leicht ist das Skandalon nicht auszuräumen. Neuerdings haben sich Gurus der Innenraumgestaltung mit dem modernen Wohngeschmack angelegt und festgestellt: Reines Weiß ist schlicht „lebensfeindlich“, weil die Farbe lähmt, gleichermaßen langweilt wie übermäßig erregt, ständig Anspannung hervorruft und anhaltend betäubt, Tranquillizer und Wachdroge zugleich ist. Man wagt kaum darüber nachzudenken, was das wahre, widerspruchsfreie Leben sein könnte: kurzweilige Zerstreuung im Kunterbunt?

Nicht zufällig hat dieser jüngste Trend des Interior Design einen Vorläufer in der bildenden Kunst. Im Zuge der postmodernen Abrechnung mit dem „Purismus“ der modernen Kunst im Allgemeinen und der Bauhaus-Idee im Besonderen sind schließlich auch die Präsentationsformen von Kunst im 20. Jahrhundert kritisch gemustert worden. Brian O’Dohertys Essay Inside the White Cube: The Ideology of the Gallery Space (1976) darf in seinem Einfluss auf die Kunstdiskussion durchaus mit Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935) verglichen werden. Beiden Autoren gemeinsam ist das Interesse an einer unzureichend beachteten Veränderung der Rezeptionsbedingungen von Kunst. O’Doherty, der selbst als Konzept-Künstler gearbeitet hat, analysiert, wie der in den 1960er-Jahren zum Standard gewordene, homogene weiße Galerieraum Kunstwerke in eine Sphäre quasi-religiöser Andacht entrückt: abgehoben von den Produktionsbedingungen und unbefleckt vom kommerziellen Kalkül, das im Hinterzimmer lauert. Diese sozio-kulturelle Betrachtungsweise einer scheinbar selbstverständlichen Gegebenheit erbringt eine Fülle kritischer Einsichten, aber sie bleibt doch zu sehr dem intellektuellen Diskurs der New Yorker Kunstszene verhaftet. Erfahrene Kunsthändler wie der Doyen der Basler Kunstmesse, Ernst Beyeler, haben rasch erkannt, dass das Ideal des „White Cube“ dem Geschäft eher abträglich ist, weil es der privaten Klientel suggeriert, die Exponate gehörten eigentlich ins Museum und nicht ins durchmischte Wohnmilieu.

Das Problem des weißen Präsentationsraums wurzelt in der Tat in einer Verlegenheit der Kunstmuseen: Welche Rolle spielt Weiß in der Kunstgeschichte? Spätestens seit Wolfgang Schönes Schrift Über das Licht in der Malerei (1954) ist es kunsthistorischer Konsens, dass das intensive Reflexionslicht weißer Wände die Eigenhelligkeit von traditionellen Gemälden, die unter einer anderen Erfahrung von Leuchtdichte (luminance) im Innenraum geschaffen wurden, entstellt. Aber welche Wandfarbe dann? Dagegen scheint die weiße Wand für die Präsentation moderner Werke angemessen und zwar nicht nur, weil das Bauhaus unsere Wohnästhetik und das Museum of Modern Art den Präsentationsstil von Kunstwerken geprägt haben: Weiß ist vielmehr die Erkennungsfarbe moderner Malerei schlechthin. Das begann im 19. Jahrhundert mit dem alla prima Verfahren, dem direkten Farbvortrag ohne Untermalung und Lasuren, den vor allem die Impressionisten praktizierten; und vollendete sich im 20. Jahrhundert mit der Einführung von Weiß als genuiner Bildfarbe bei so verschiedenen Malern wie Matisse und Mondrian, Kandinsky und Léger. Vielleicht wird man eines Tages, wenn nicht mehr die unübersehbare Vielfalt der Ausdrucksformen das Urteil trübt, in der Farbe Weiß das charakteristische Merkmal moderner Kunst erblicken, ähnlich wie in der Zentralperspektive die Gemeinsamkeit der Renaissancemalerei.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Sicher hat die Entstehung der Fotografie zu einer Veränderung der Bildkonzeption in der Malerei beigetragen. Moderne Gemälde sind in der Regel keine substanziellen, ihre Signifikanz in sich tragenden Bildkörper mehr, sondern Anschauungsflächen, die erst und allein in der Erwiderung des Betrachters die gehörige Existenz finden. Doch der wichtigste Grund für die Emanzipation der Farbe Weiß ist die neue Grundlosigkeit des Unterfangens „Kunst“. Die weiße Leinwand erweist sich als tabula rasa, als eine Malfläche, die leer ist, weil alle traditionellen Einträge darauf gelöscht sind: der gesellschaftliche Auftrag, die verbindliche Ikonografie, handwerkliche Überlieferung. Nur die Stille in der Musik ist dieser unmittelbaren Manifestation des Ausgangspunkts aller modernen Künste vergleichbar. Die weiße Leere kann sich in diesem Zusammenhang bis zur Blendung und geistigen Blockade steigern und ist doch nur die Kehrseite dessen, was das einfältige Geschwätz von der „künstlerischen Freiheit“ meint. „I have nothing to say, and I am saying it“ (John Cage). Der blanke Schrecken und das Faszinosum der ungeahnten Möglichkeiten gehören zusammen. Die Ausstellung Der weiße Abgrund Unendlichkeit! Kandinsky, Malewitsch, Mondrian im Frühjahr 2014 in Düsseldorf hat diese zweite Seite gefeiert. Aber der Triumph der großen Abstrakten ist nicht der Weißheit letzter Schluss. Der „eigenartige Zustand von Aussichtslosigkeit, Ratlosigkeit und Übermut“ (Gerhard Richter) hält an. Das Ausstellungsprojekt der Sektion Bildende Kunst NOTHINGTOSEENESS Leere/Weiß/Stille geht dieser Spur erneut nach.

Robert Kudielka, Kunsttheoretiker und Publizist, ist seit 1997 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Bildende Kunst. Von 2003 bis 2012 war er Direktor der Sektion.

06.10.2021, 14:42

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