Die Videokunst in Leipzig blickt auf eine bemerkenswerte Entwicklung zurück: Seit den frühen 1990er Jahren hat sich die Stadt zu einem Zentrum audiovisueller Kunst etabliert – nicht zuletzt durch den Studiengang Medienkunst an der HGB. Die Ausstellung Screen Time. Leipziger Videokunst seit 1990 macht diese Geschichte sichtbar und vereint Positionen aus drei Künstler*innengenerationen. Hier sollen einige der Künstler*innen vorgestellt werden, die den Bogen von den Anfängen bis in die Gegenwart der Leipziger Videokunst schlagen.
Clemens von Wedemeyer
Ein Besucher, ein Bewacher und ein illegaler Bewohner bewegen sich nachts durch ein leeres Museum. Sie nehmen voneinander Notiz, aber begegnen sich nicht. Alle drei Figuren werden von demselben Schauspieler gespielt. Auf den Projektions- flächen, die im Dreieck angeordnet sind, ist je einer der drei Handlungsstränge zu sehen. Die Aufnahmen entstanden 2004 im unfertigen Neubau des Museums der bildenden Künste Leipzig. Anregung für den Titel bot dem Künstler das Gemälde Los Angeles County Museum of Art on Fire (1965–1968) von Ed Ruscha.
Alba D’Urbano
Das Video Hautnah ist Teil eines gleichnamigen Werkzyklus, den die Künstlerin von 1994 bis 1997 entwickelte. Der Werkzyklus befasst sich mit dem menschlichen Körper im Zeitalter der Digitalisierung und „seiner damit verbundenen Dematerialisierung: ein Prozess, der bereits in den 1990er Jahren im Gange war und nun seine extremen Auswirkungen zeigt, insbesondere durch den umfassenden Einsatz von KI in der Informationstechnologie“, so die Künstlerin. Entstanden aus einer biografischen Erfahrung, aus dem Gefühl, sich als Künstlerin in der eigenen Haut unwohl zu fühlen und dem Wunsch, diese ablegen zu können, thematisiert das Projekt auch Fragen, 20 die über die Digitalisierung hinausgehen und speziell mit dem Körper der Frau in Verbindung stehen. Denn gerade der weibliche Körper wird in Kommunikationskanälen als Medium genutzt, um geschlechtsspezifische Inhalte und Normen zu vermitteln. Für das Projekt entwickelte die Künstlerin neben dem Video ein Kleidungsstück mit gescannten Bildern ihres Körpers und großen Digitaldrucken mit dem ACII-Code-Text der Bilder. Das mit 3D-Computeranimation erstellte Video zeigt einen Frauenkörper, der sich aus den gescannten Körperbildern der Künstlerin und einem dreidimensionalen Modell aus dem Internet konstituiert. Im Verlauf der Animation wird das Modell durch seinen ASCII-kodierten Stellvertreter ersetzt. Während dieser Transformation überschneiden sich die beiden Körpermodelle in einer Figur, die den humanistischen vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci zitiert, mit dem wesentlichen Unterschied, das im Zentrum des Geschehens nicht der Körper eines Mannes, sondern ein Frauenkörper steht.
Für die Installation Rosa Binaria e dintorni, die von Alba D‘Urbano eigens für die Ausstellung konzipiert wurde, verbindet die Künstlerin Elemente verschiedener früherer Arbeiten seit 1993: Rosa Binaria: Reliquien (seit 1993), Memories (2001) und Private Property Selection (2008).
„Rosa Binaria ist der Titel einer umfassenden Projektreihe, die auf vielfältige Weise die Transformation eines ursprünglichen, für sich existierenden Gegenstandes bis hin zur Simulation dokumentiert. Zum zentralen Gegenstand wählte Alba D’Urbano die Rose. Kultiviert und vielfach symbolisiert kommt ihr in vielen Kulturkreisen eine besondere Stellung zu. Über Jahre sammelte die Künstlerin Rosendarstellungen jeglicher Art, katalogisierte und systematisierte sie nach Material und Herkunft und nutzte dieses Archiv als Quelle für einige ihrer Installationen. Ein wiederkehrendes Motiv der gesamten Projektreihe ist das Video Rosa Binaria, das ebenfalls anhand dieser Sammlung entstand. Im Verlauf des Videos wird das Objekt der Rose verschiedenen, aufeinander aufbauenden Transformationsprozessen unterworfen, angefangen von den Aufnahmen einer Rose in ihrer natürlichen Umgebung bis hin zu ihrer virtuellen Simulation, die nur im Computer existiert. Aufnahmen von gezüchteten Rosen, beispielsweise, symbolisieren das erste Stadium der Entfremdung. Anschließend verweisen künstliche Reproduktionen, die noch die Form des Gegenstandes haben, aber aus anderen Materialien bestehen, auf den ursprünglichen Gegenstand. Die Schritte der Transformation vollziehen sich weiter über Fotos, Gemälde und Zeichnungen, die schließlich in Schrift übergehen und in verschiedene Sprachen übersetzt werden. Am Ende steht die Computeranimation einer Rose, die nur im virtuellen Raum existiert. Die Ton- und Bildmaterialien für das Video wurden aufgenommen, digitalisiert und anschließend mit Hilfe des Computers bearbeitet.“
Juliane Jaschnow / Stefanie Schroeder
[ˈdʊŋkl ̩ ˌdɔɪ ̯ t͡ ʃlant] Eine Geisterbahnfahrt durch die ehemalige ostdeutsche Industrieregion Halle/Bitterfeld, die sich ihres Rufs entledigen will: Fabriken und Schornsteine verschwinden, Wellnesscenter breiten sich aus, Schafe grasen unter Solarpanels. Dicht an der neuen Oberfläche lagert die jüngste Vergangenheit. Die subjektive Kamera der in Dunkeldeutschland geborenen Filmemacherinnen sucht stolpernd nach der richtigen Distanz: im Solarpark Teutschenthal, errichtet auf einem ehemaligen Kasernengelände der sowjetischen Armee, auf der Tanzfläche der Bitterfelder Diskothek The Door Anno 1992, im trüben Wasser der in den frühen 90er Jahren versunkenen Kleingartenanlage Frieden im Saalekreis oder im Wellnessnebel der mexikanischen Saunalandschaft Maya Mare in Halle (Saale). Die Reise beginnt in der ehemaligen ORWO Filmfabrik Wolfen, wo Filmmaterial in absoluter Dunkelheit hergestellt wurde.
Die Wirkung des Geschützes auf Gewitterwolken Wellen, Stürme und Tornados steuern auf Deutschland zu – das wissen alle: der Wetterbericht, YouTube und Spieleentwickler. Ein Klimaszenario wird zur Windbeutelei, überall fluten Daten, stürmt Scheiße oder strömen Flüchtlinge. Sprache, Metaphern und Bilder sind Werkzeuge der Kontrolle. Mit ihnen bannt man Ängste – und stellt sie her. Inwiefern ist das Bild Dokument, Fiktion, Trophäe, Gegenangriff? Wie nah sind sich Manipulation und Prognose? Ist das Wetter noch echt?
Ein Film über das Bild vom Sturm und den Sturm als Bild: Stormchaser jagen Stürme mit der Kamera und verwandeln sie in fotografische Trophäen. Vor dem Greenscreen des Fernsehstudios deutet der Wettermoderator ins Nichts. Im Max-Planck-Institut fliegen Vögel gegen den künstlichen Wind an. Besorgte Lovestormpeople fluten das Internet mit windschiefen Parolen. Escape-Games spielen mit gesellschaftlichen Ängsten. Auf den Plantagen von Sachsenobst feuern Hagelschutzkanonen Schallwellen von 130 Dezibel in den Himmel. Welche (Un-)Wetterlagen werden in Deutschland zur Normalität?
Endlager Die Zukunft prekärer Hinterlassenschaften der Menschheit wird im Rahmen einer endlosen Onlinekonferenz mit 126 Teilnehmer*innen aus der Zivilgesellschaft entlang von Standortfragen diskutiert. Alle Expert*innen sind sich einig: „Geologie ist stabiler, verlässlicher und vorhersehbarer als politische Systeme und Gesellschaften“. Ein Friedensdampfer kreuzt durch die Moselweinberge, am NATO-Atomwaffenstützpunkt vorbei. Die letzte und die vorletzte Generation begegnen sich nicht. Eine zum stereo skopischen Prä-Cyborg umgestaltete Gottesanbeterin schaut in eine verschobene Vergangenheit. Am Niederrhein wird ein ausrangierter Atommeiler zum All-Inclusive- Freizeitpark. Es gibt in Deutschland noch kein Endlager für hochradioaktive Abfälle. Doch „die sicherheitsrelevanten Informationen für die Nachwelt sollten für 1 Million Jahre auf verschiedenen Speichermedien vorgehalten werden“.
Maithu Bùi
Mathuât – MMRBX ist eine virtuelle Diaspora von generationenübergreifenden Erinnerungen. Die Arbeit verbindet das vietnamesische Ritual der Totenpflege auf einer metaphorischen Ebene mit einer allegorischen und virtuellen Gedächtnisbox, die bewegte Bilder als Gedächtnisstütze speichert. Die Installation fungiert als vietname- sisches Wasserpuppentheater und nutzt die alten Methoden des Geschichtenerzählens und der Wissensverbreitung, um historische Erzählungen zu bewahren. Das vietnamesische Mathuât (Magie) = ma (Geist) + thuât (Handwerk), bezeichnet die Kunst, mit Geistern zu kommunizieren. MMRBX ist ein Akronym für den Arbeitsbegriff ‚memory box‘, der die Diaspora der Erinnerungen simuliert. Durch Chöre und andere erzählerische Mittel evoziert das Werk ein Gefühl von generationenübergreifender Kontinuität, in der Geschichten durch Geisterbegegnungen beginnen und enden. Das Werk verbindet metaphorisch das vietnamesische Ritual der Totenpflege mit einer allegorischen und virtuellen Erinnerungsbox, die mnemotechnisch bewegte Bilder aufbewahrt. Für die Ausstellung erweitert Maithu Bùi die Videoarbeit Mathuât – MMRBX (2022) durch eine Vielzahl von Objekten zu der ortsspezifischen Installation The Walls, the Floors (2025).
Streichtests von 1904 bis 2031 Die Felder auf den Wänden symbolisieren den Zeitraum von 1904 bis 2031. Jede Fläche markiert ein Jahr. Die schwarz angestrichenen stehen für Kriegsanfänge, Massaker und (umstrittene) Völkermorde. Wären alle bewaffneten Konflikte erfasst, müsste die Wand vollständig schwarz sein.
Im Begleitheft zur Ausstellung finden Sie alle Biographien der Künstler*innen