Videokunst – ursprünglich auf Magnetbändern elektronisch abgespeicherte Kameraaufnahmen – etablierte sich seit den 1960er Jahren schrittweise als eigenständige Gattung der bildenden Kunst. Inzwischen hat sich der Be griff längst von der historisch gewordenen Technik gelöst und umfasst heute ein beträchtliches Spektrum unterschiedlicher audiovisueller, zeitbasierter Ausdrucksformen – von auf Bildschirmen flackernden Einkanal-Arbeiten über raumgreifende Mehrkanal-Installationen bis hin zu Expanded Cinema und digitaler Netzkunst.
Spätestens mit der Einrichtung des Studiengangs Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) 1993 konnte sich Leipzig als bedeutender Standort für Videokunst etablieren. Die Medienbiennale in den Jahren 1992 und 1994 bot Gelegenheit zur internationalen Vernetzung. Seitdem hat das Medium einen festen Platz in der Stadt. Das MdbK kann seit dem Einzug in seinen Neubau 2004 auf mehrere einschlägige Ausstellungen (unter anderem 40jahrevideokunst.de. – Revision.ddr, 2006) sowie eine stetig wachsende Sammlung verweisen, und auch die Galerie für Zeitgenössische Kunst und die Halle 14 haben sich zu wichtigen Orten für Videokunst entwickelt.
Die technischen Bedingungen und die ästhetische Spannweite der Videokunst haben sich seit den frühen 1990er Jahren ebenso rasant verändert wie der Status von digitalen Bewegtbildern in der Alltagskultur. In der Ausstellung lässt sich diese Entwicklung anhand ausgewählter Arbeiten von 18 Künstler*innen aus drei Generationen nachvollziehen. Die gezeigten Werke stehen exemplarisch für die Vielfalt der Kunstform. Das gilt für die 3 Themen, aber auch für die künstlerischen Mittel und hier ganz besonders für den Umgang mit den Möglichkeiten von Bild und Ton: Neben langen Einstellungen finden sich rasante Bildschnitte, statische Kameraperspektiven neben dynamischen Schwenks. Hier minutiös komponierte, an Gemälde erinnernde Videobilder, dort ein nervöses Flimmern oder Pul sieren. Episch anmutende Sequenzen folgen auf solche, die sich an der Ästhetik von YouTube-Interfaces orientieren. Manche Künstler*innen arbeiten erzählerisch (mal fiktional, mal reportagehaft), andere assoziativ. Manche nutzen eine Erzählstimme, andere allein die jeweiligen Umgebungsgeräusche und wieder andere eigens komponierte oder gesampelte Scores.
Technische Veränderungen treiben die Kunst
Es war uns ein Anliegen, möglichst viele dieser Spielarten von Videokunst zu vereinen und dabei auch andere Gattungen wie Malerei, Fotografie, Plastik und Performance zu integrieren. Wir sind davon überzeugt, dass das Auffächern der verschiedenen Varianten und deren Kombination mit ‚unbewegten‘ Bildern die Eigenheiten und Potenziale von audiovisueller, zeitbasierter Kunst intuitiv erfahrbar macht. Auch thematisch bietet die Ausstellung eine große Vielfalt. Viele Werke zeugen von einer engagierten Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen wie Feminismus, Rassismus und Migration. Andere hingegen konzentrieren sich eher auf formale Gesichtspunkte wie die Wahl des Bildausschnitts (die Cadrage) und das assoziationsreiche Zusammenspiel von Bild und Ton, während wieder andere sich selbstreflexiv mit den technischen Gegebenheiten des Mediums auseinandersetzen.
Der thematische Bezug der Künstler*innen und Werke zu Leipzig ist mal enger und mal weiter gefasst. Die Herdtz-Trilogie des gebürtigen Leipzigers Ronny Bulik zum Beispiel hat die Stadt explizit zum Thema. Andere Arbeiten befassen sich aus der Perspektive der dritten und vierten Generation Ost mit ostdeutscher Geschichte und Identität. Fast alle Künstler*innen haben an der HGB studiert (und einige auch gelehrt). Zugleich sind mit Maithu Bùi und Nadja Buttendorf aber auch zwei Personen vertreten, die einen eher losen Bezug zur Stadt haben, deren Arbeiten jedoch einen essenziellen Beitrag zum Gesamtbild der Ausstellung leisten. Die große Zahl hervorragender Videoarbeiten der letzten 35 Jahre aus Leipzig übersteigt die Kapazität einer einzigen Ausstellung um ein Vielfaches. Wir erheben mit der getroffenen Auswahl deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht uns vielmehr um eine erste Sondierung, die sich aber durchaus eine gewisse Repräsentativität zum Ziel gesetzt hat. Alles in allem verstehen wir Screen Time nicht als abgeschlossene Erzählung, sondern als Etappe auf dem Weg der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Videokunst am Beispiel der Stadt. Daher lädt auch ein Archivraum innerhalb der Ausstellung dazu ein, Korrekturen und Ergänzungen vorzuschlagen und sich so an der Geschichtsschreibung zu beteiligen sowie anhand ausgewählter Publikationen noch tiefer in das Thema einzutauchen.
Beitrag von Philipp Freytag / Anne Richter