Vor nahezu 65 Jahren wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland geschlossen, in Folge dessen über 800.000 Menschen aus dem türkischen Kulturraum als sogenannte „Gastarbeiter“ einreisten. Aus dem Status einer zunächst vorübergehenden Anwesenheit wurde für viele später der Versuch einer dauerhaften Beheimatung in einer fremden, oftmals wenig gastfreundlichen Umgebung. So auch in Ahlen, wo Türkinnen und Türken auf der Zeche ‚Westfalen‘ Arbeit fanden und heute in zweiter oder dritter Generation die Stadtgesellschaft mitprägen. Daher entstand im Kunstmuseum Ahlen die Idee zu einer Ausstellung, die einen längst überfälligen Blick auf das Thema der Migration und den ambivalenten, politisch umkämpften Begriff ‚Heimat‘ wirft. Damit wird ein wichtiges Kapitel der deutschen Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit berührt, das unsere Gegenwart prägt und dennoch bislang viel zu selten zur Sprache gekommen ist.
Süße Heimat. Deutsch-türkisches Leben in der Kunst zeigt sechzehn renommierte Künstlerinnen und Künstler. Die meisten von ihnen sind selbst Grenzgänger, sie pendeln zwischen Istanbul und Berlin, sie wurden in der Türkei geboren und sind in Deutschland aufgewachsen oder umgekehrt, sie haben kurdische oder armenische Wurzeln, sie verstehen sich als Europäer*innen oder Weltbürger*innen. Ihre Positionen sind international bekannt, sie wurden mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet und sind mit ihren Werken in wichtigen privaten wie öffentlichen Sammlungen präsent.
Gülsün Karamustafa, eine der bedeutensten türkischen Künstlerinnen der Gegenwart, setzt sich seit den 1970er Jahren mit Migration und dem Erbe des Kolonialismus auseinander. Jüngst zeigte sie eine große Installation auf der 60. Biennale von Venedig (2024). In Ahlen sind eine große Rauminstallation aus dem Arter Museum, Istanbul und eine weitere Arbeit von ihr zu sehen.
Die in Paris lebende Künstlerin Nil Yalter machte schon vor Jahrzehnten weltweit im Exillebende Menschen in ihren Fotografien und Kampagnen sichtbar. 2018 wurde sie mit dem Prix AWARE (Archives of Women Artists, Research & Exhibitions) und mit dem Goldenen Löwen der 60. Biennale (2024) für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
In der Ausstellung Süße Heimat. Deutsch-türkisches Leben in der Kunst sind Installationen, skulpturale und textile Objekte, Fotografien und Videos zu sehen, die vielgfältige Perspektiven auf migrantische Erfahrungen ermöglichen. Es geht um Erinnerungen an das in der Heimat Zurückgelassene, um Hoffnungen, die sich mit einem Neuanfang in der Fremde verbinden und die schwierigen Pendelbewegungen zwischen unterschiedlichen Kulturen. Şakir Gökçebağ, Ekin Su Koç, Hakan Savaş Mican, Servet Koçyiğit, Silvina Der Meguerditchian oder Özlem Yenigül schaffen eindrucksvolle Bilder für Erfahrungen in der Fremde, für Anpassungsschwierigkeiten, für Gedanken und Träume, die an verlorene Orte und die dortigen Menschen zurückführen. Viele Werke reflektieren das Spannungsfeld zwischen Traditionen und den Möglichkeiten, die eine freiheitliche Gesellschaft bietet – etwa im Hinblick auf Geschlechterrollen, zu Fragen der Identität und der Religion.
In der begleitenden Publikation nehmen Künstlerinnen und Künstler persönlich Stellung zu der Frage, was Heimat für sie bedeutet. Dabei geht es zumeist nicht um eine nationale Identität, sondern um Menschen, denen man sich zugehörig fühlt, um einen inneren Raum oder einen fortwährenden Prozess der Selbstfindung und -definition. Die Sehnsucht nach der „süßen Heimat“, als Projektion oder Erinnerung, verbindet fast alle. Der Titel dieser Ausstellung ist denn auch einer gleichnamigen Arbeit von Halil Altindere entlehnt, die in türkischer Sprache in den kommenden Monaten vom Balkon des Museums in den Außenraum strahlen wird.
Die Türkei, die im 20. Jahrhundert und insbesondere in den letzten Jahrzehnten viele historische, politische und kulturelle Umbrüche erlebt hat, gerät ebenfalls in den künstlerischen Blick. Nezaket Ekici, Servet Koçyiğit oder Cengiz Tekin hinterfragen die Bedeutung von Konventionen und patriachalen Strukturen, Methap Baydu und Güneş Terkol verleihen insbesondere den Frauen eine gesellschaftlich wichtige Stimme.
Pınar Öğrencis künstlerischer Beitrag mit einer Videoarbeit und Fotocollagen erzählt die zu oft übersehene Geschichte der Bergarbeiter aus der Türkei im Ruhrgebiet und die 2023 von İmran Ayata und Bülent Kullukçu veröffentlichten Songs of Gastarbeiter Vol. 1 spiegeln den harten Arbeitsalltag und die vielen Entbehrungen türkischer Arbeitsmigranten, die in den 1970er Jahren maßgeblich zum wirtschaftlichen Aufschwung und zum Wohlstand in Deutschland beigetragen haben.