Leseprobe : Eine neue Art zu führen

Jacinda Ardern hat unser Bild von politischer Führung verändert. Ihr Stil als Premierministerin war authentisch und empathisch. In ihrem Memoir „A Different Kind of Power“ gibt sie tiefe Einblicke in ihren Weg an die Spitze. Zur Leseprobe

Jacinda Ardern – ehemalige Premierministerin Neuseelands und Symbol für empathische, moderne Führung

Foto: MARTY MELVILLE/AFP via Getty Images

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A Different Kind of Power

A Different Kind of Power

Jacinda Ardern

Hardcover, gebunden

480 Seiten

26 €

In Kooperation mit Penguin Random House

Prolog

Es war eine normale Gästetoilette. So, wie man sie in einem Holzhaus aus den Fünfzigerjahren praktisch überall in Neuseeland findet. Mit dunklem Linoleumboden und kleinem Handwaschbecken – gerade groß genug zum Händewaschen, aber schon zu klein, um die Menge Wasser aufzufangen, die man dabei verbrauchte. Ich saß auf dem harten Plastik des zugeklappten Toilettendeckels und wartete. Mein Herz schlug ein bisschen schneller als sonst.

Ich hörte, wie meine Freundin Julia auf der anderen Seite der Tür in ihrer Küche hantierte – Bratpfannen landeten im Spülbecken, Teller klirrten beim Stapeln. Wahrscheinlich kratzte sie von meinem Teller gerade die Reste eines weiteren Abendessens ab, das ich mal wieder nur darauf herumgeschoben hatte. Diesmal hatte es Hühnchen mit gebratenen Süßkartoffeln, Kürbis, Kartoffeln und grünen Bohnen gegeben. Julia war eine ausgezeichnete Köchin, aber ich konnte kaum essen, wenn ich nervös war. Vor allem jetzt.

In den letzten sieben Wochen hatte ich mich von Käse, Crackern und den selbst gemachten Energy Bliss Balls meiner Mutter ernährt. Diese riesigen Energiekugeln aus zerkleinerten Datteln, Cashews und Chiasamen, die dazu neigten, zwischen meinen Schneidezähnen hängen zu bleiben. Das war kein Problem, solange ich die golfballgroßen Snacks zu Hause aß, aber ich hatte sie mir unterwegs auf Wahlkampftour gegönnt. Bei diesem Wahlkampf ging es darum, ob ich als Vierzigste das Amt der Premierministerin Neuseelands übernehmen würde. Seit dem Wahlabend waren schon Wochen vergangen, aber die Frage war immer noch nicht beantwortet.

Als ich in Julias Gästetoilette saß, ging es allerdings nicht um diese Frage.

Ich warf einen Blick auf mein Handy. Nur noch ein paar Minuten.

Der Abend bei Julia sollte eine Verschnaufpause sein. Eine Gelegenheit zum Durchatmen, während mein Partner Clarke oben im Norden eine Fernsehsendung aufzeichnete. Ich trug noch meine schwarz-weißen Sneakers, dazu Leggings und einen violetten Hoodie. Kaum hatte ich mit der kleinen Übernachtungstasche das Haus meiner Freundin betreten, schlüpfte ich aus der Arbeitskluft. Dann waren wir gemeinsam in der kühlen Luft des Spätnachmittags durch den nahen Park spaziert. Ich hätte es keine weitere Nacht in meiner Einzimmerwohnung in der Stadt ausgehalten, wo ich wohnte, wenn ich in Wellington für die Regierung arbeitete. Nicht nach diesen langen Tagen voller Verhandlungen und Warterei.

Am Wahlabend hatte keine der beiden großen politischen Parteien Neuseelands eine klare Mehrheit errungen, weder die konservative National Party noch die progressive Labour Party, die ich anführte. Das bedeutete, dass noch niemand eine Regierung bilden konnte. Für den Sieg und das Amt des Premiers brauchten wir eine Koalition mit einer kleineren Partei namens New Zealand First. Und daher hatten in den letzten acht Tagen beide Parteien Gespräche geführt, um eine Entscheidung herbeizuführen. Trotz des ganzen Hin und Hers in den Verhandlungen und aller Diskussionen über die von uns geplanten politischen Maßnahmen war die Rechnung eigentlich einfach. New Zealand First würde sich entweder für die National Party entscheiden oder für uns. Jeden Termin verließ ich mit seitenweise Notizen, doch ich achtete noch mehr auf die Körpersprache. Ein Kopfnicken. Blickkontakt. Etwas, irgendetwas, das mir verriet, auf wen ihre Wahl fallen würde. Doch da gab es nichts. Die Medien berichteten allabendlich ausführlich über die Gespräche. Auch sie verfügten über keine Einblicke dazu, was passieren würde, und so wiederholten sie nur ständig, was ich schon zu genau wusste: »Es steht einiges auf dem Spiel.« Während des gesamten Wahlkampfs hatte viel gegen uns gesprochen. Schließlich war ich erst siebenunddreißig Jahre alt. Noch keine achtzig Tage stand ich an der Spitze meiner Partei. Und zu Beginn des Wahlkampfs hatten wir mit mehr als 20 Prozent zurückgelegen. Unser Sieg war ganz und gar unwahrscheinlich. Und ich war keine geborene Anführerin.

Nervös zupfte ich an meinen Leggings. Bestimmt ist es schon so weit. Wieder ein Blick auf mein Handy. Noch eine Minute.

Mein ganzes bisheriges Leben lang hatte ich mit dem Gefühl gerungen, nicht gut genug zu sein. Jeden Moment konnte ich entlarvt werden, denn es war ja so, dass – was auch immer ich tat – es mir eigentlich nicht zustand. Daher war ich überzeugt davon, mich mit meiner Persönlichkeit eher für Arbeit hinter den Kulissen zu eignen. Ich war eine Macherin, die Dinge still und zuverlässig erledigte. Um eine richtige Politikerin zu werden, war ich nicht tough genug. Meine Ellbogen waren dafür nicht spitz genug, meine Haut war zu dünn. Ich war Idealistin und sensibel.

Dass ich Parlamentsabgeordnete geworden war, verdankte ich ganz sicher nur einem Zufall. Doch wie sich herausstellte, brachte ein wachsendes Verantwortungsgefühl meine Furcht, zu scheitern und Menschen im Stich zu lassen, zum Schweigen. Und so wurde ich entgegen aller Wahrscheinlichkeit erst stellvertretende Vorsitzende meiner Partei, dann Vorsitzende und jetzt möglicherweise Premierministerin.

Aus der Küche war nichts mehr zu hören. Julia saß wahrscheinlich wieder am Esstisch und beschäftigte sich mit irgendwas, bis ich wieder auftauchte. Sie war jünger als ich, aber trotzdem mütterlich, was vielleicht an ihrem Job im Gesundheitswesen lag. Unsere Gespräche fingen immer damit an, dass sie mich fragte: »Wie fühlst du dich?« Als ich ihr heute erzählte, dass es mir nicht so gut ging, und dazu ein paar ungewöhnliche Symptome schilderte, war sie losgegangen und hatte einen Schwangerschaftstest besorgt. Den zog sie nach dem Essen aus einer Einkaufstüte, als wäre es ein Pfefferminz.

»Nur für alle Fälle«, hatte sie gemeint.

Und jetzt lag dieser Test auf dem Waschbecken und wartete auf die große Enthüllung. Ich schaute auf den Timer meines Handys.

25 Sekunden, 23 Sekunden, 21.

Innerhalb der nächsten Tage würde ich erfahren, ob ich ein Land führen sollte, und nun hockte ich in einer Gästetoilette in Tawa, Neuseeland, um innerhalb von Sekunden zu erfahren, ob ich das mit einem Baby tun würde.

Ich schloss die Augen und hob mein Gesicht Richtung Decke. Dann holte ich tief Luft, öffnete die Augen und senkte den Blick.

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