Im Dienste der Mächtigen

Karten Je mehr Institutionen georeferenziertes Wissen über Migration produzieren, umso wichtiger wird es, sich mit der Macht von Karten, kartografischem Denken und den von ihnen vermittelten Repräsentationen von Raum zu beschäftigen
Im Dienste der Mächtigen

Illustration: Rosa Luxemburg Stiftung/Atlas der Migration

Karten zu Migrationsbewegungen sind weder neutrale Bebilderungen noch exakte Darstellungen der Wirklichkeit. Seit der Kolonialisierung setzten mächtige Akteur:innen Karten ein, um territoriale Kontrolle und Herrschaft darzustellen und auszuweiten sowie politische Ziele zu legitimieren. Kartografische Darstellungen von Migration und Flucht sind von spezifischen Interessen geleitet. Staatliche Akteure zählen grenzüberschreitende Migration und machen sie mit Karten sichtbar. In der politischen Debatte helfen sie bei der Durchsetzung von Maßnahmen, um Migration zu kontrollieren und zu steuern.

Im Gegensatz zu einem Fließtext oder einer Tabelle ermöglichen Karten, Grenzübertritte und Migration räumlich darzustellen. Mit Pfeilen, farblich kodierten Unterscheidungen von Herkunfts- und Zielländern sowie Grenzverläufen verleihen Kartograf:innen ihren Darstellungen eine vermeintlich klare Aussage. Sie vermeiden gestrichelte Linien und schraffierte Flächen, die umstrittene, komplexe oder unbekannte Sachverhalte und Grauzonen visualisieren könnten.

Die Augenscheinlichkeit von Karten bewirkt, dass sie als real und wahr gelesen und nicht im selben Maße wie Texte hinterfragt werden. Diese Suggestivkraft ist für die politische Kartografie verlockend. So veröffentlicht die europäische Grenzschutzagentur Frontex regelmäßige „Risikoanalysen“ und stellt irreguläre Migration darin auch visuell-kartografisch dar, etwa mit riesigen, aus vielerlei Ländern gespeisten Pfeilspitzen, die mitunter die Größe ganzer EU-Länder übersteigen und sie gar bedecken.

Durch die Technologisierung der Grenzinfrastruktur verfolgen die europäischen Grenzkontrolleur:innen – sowohl Frontex als auch etwa die griechische Küstenwache – das Ziel, die Schengen-Außengrenze umfassend aus der Ferne und in Echtzeit zu überwachen. Es ist zu vermuten, dass sie offizielle Karten mit geradlinigen Grenzverläufen in der Ägäis nutzen, um Menschen an ihrer Flucht über das Meer zu hindern. Denn die Praxis der sogenannten Pushbacks, der Zurückdrängung von Booten bis genau an die Grenze der eigenen Hoheitsgewässer, nahm in den letzten Jahren deutlich zu. Diese Einsätze sind rechtswidrig, weil Menschen beim Überschreiten der EU-Außengrenze einen gesetzlichen Anspruch haben, einen Asylantrag in der EU zu stellen.

Auch zivilgesellschaftliche Gruppen setzen seit vielen Jahren Karten ein, um etwa die Zahl der Opfer auf den Fluchtrouten über das Mittelmeer darzustellen. Noch recht neu ist der Widerstand der Aktivist:innen, die digitale Karten und Anwendungen einsetzen. Für Migrant:innen selbst sind Smartphones unabdingbar, um in Kontakt mit Familie und Freund:innen zu bleiben, zunächst aber, um auf gefährlichen Routen durch Wüsten und fremde Länder bis an und über das Meer zu navigieren. Die Kommunikation verläuft meist über Apps, die auf geografische Daten und Karten zurückgreifen. Ein Beispiel für den Einsatz solcher digitaler Kartenanwendungen als Gegenwissen ist das Netzwerk Alarm Phone.

Es betreibt eine Seenotrettungshotline im Mittelmeer und einen Suchdienst in der Sahara. Die Telefonnummer ist unter Flüchtenden weithin bekannt. Die Aktivist:innen vom Alarm Phone nutzen Anrufe von Satellitentelefonen oder Smartphones, um die Koordinaten des Bootes zu ermitteln, wenn Menschen in Seenot geraten. Anhand des genauen Standortes fordern sie die zuständigen Behörden dazu auf, ihre Pflicht zur Seenotrettung wahrzunehmen.

Das so generierte Wissen über Ausgangspunkte von Notrufen, über illegale Pushbacks und über erfolgreiche Rettungsaktionen lässt sich im Nachgang kartografisch darstellen und kann zu einer kritischen Beobachtung und Dokumentation staatlicher Praxis beitragen. Das Netzwerk Forensic Architecture zeigte mit einer kartografischen Darstellung der Überwachungszonen im Mittelmeer, mit Satellitenaufnahmen, mit Simulationen der Wind- und Strömungsverhältnisse und Aussagen der wenigen Überlebenden, warum 2011 mehr als 60 Migrant:innen sterben mussten, weil ihr Boot zwei Wochen lang ohne Treibstoff umhertrieb, obwohl italienischen, maltesischen und Nato-Stellen der Standort des Bootes bekannt gewesen war. Die Dokumentation des Netzwerks erreichte eine breite Öffentlichkeit und ermöglichte mehrere Gerichtsprozesse.

Diese Beispiele verdeutlichen, wie unterschiedlich die Ziele sind, die mittels kartografischer Darstellungen und
digitaler Anwendungen im Bereich der internationalen Migration verfolgt werden. Vermeintlich rein technische
Vorgänge wie das Einsetzen neuer digitaler Anwendungen im Grenzschutz und die auf Geodaten basierte Überwachung des Mittelmeeres haben einen politischen Charakter. Die Verbreitung von Smartphones, mobilem Internet und Opensource-Software zur Kartierung ermöglicht Migrant:innen, ihren Weg durch die Grenzarchitektur zu finden, und der Zivilgesellschaft, den Überwachungsbehörden selbst in die Karten zu schauen.

Autor*innen: Antonie Schmiz, Stephan Liebscher und Barbara Orth von der Freien Universität Berlin

30.11.2022, 18:46

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