Schutz für Millionen

Ukraine Kein anderer Krieg der Neuzeit hat so schnell so viele Menschen zu Flüchtlingen gemacht wie der russische Überfall auf die Ukraine. Offene Grenzen erleichterten vor allem Frauen und Kindern die Suche nach Schutz
Schutz für Millionen

Illustration: Rosa Luxemburg Stiftung/Atlas der Migration

Der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine hat im Jahr 2022 die bereits zweite große Fluchtbewegung im Europa des 21. Jahrhunderts ausgelöst. Insgesamt sollen seit dem 24. Februar, als der Krieg begann, bis zum Herbst rund 14,5 Millionen Menschen die Ukraine zumindest zeitweilig verlassen haben. Das entspricht etwas mehr als einem Viertel der gesamten Bevölkerung des Landes. Viele sind inzwischen wieder in die Ukraine zurückkehrt, aber um die 7,5 Millionen waren im Herbst 2022 weiterhin in einem anderen europäischen Land als Flüchtlinge registriert.

Ein Großteil der Ukrainer:innen ist in benachbarte Länder geflohen. Die meisten, rund 2,8 Millionen, wurden in Russland und Belarus registriert, die zweithöchste Anzahl mit circa 1,4 Millionen in Polen. Deutschland steht mit einer Million registrierten Flüchtlingen – davon zwei Drittel Frauen und ein Drittel Kinder und Jugendliche – an dritter Stelle. Laut der International Organisation of Migration (IOM) haben weitere knapp 7 Millionen Menschen innerhalb der Ukraine ihren Wohnort verlassen, sind also Binnenflüchtlinge. Damit hat der russische Angriffskrieg beinahe 50 Prozent der ukrainischen Bevölkerung zumindest zeitweilig zu Flüchtlingen gemacht.

Der plötzliche Kriegsausbruch stellte die Aufnahmeländer vor große Herausforderungen. Sie ähneln jenen im Sommer 2015, als mehr als 1,3 Millionen Menschen vorrangig aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in Europa
Schutz vor den kriegerischen Auseinandersetzungen in ihren Ländern suchten. Damals registrierten sich innerhalb eines Jahres um die 890.000 Ankömmlinge beim Bundesamt für Flucht und Migration in Deutschland (BAMF). Trotz der enormen Solidarität nutzen und nutzten antidemokratische Akteur:innen das Flüchtlingsthema, um Hetze gegen Minderheiten und gesellschaftliche Institutionen zu betreiben.

Die Bereitschaft, Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine zu unterstützen, ist insbesondere in Polen und Deutschland hoch, aber auch in anderen Ländern Europas sehr ausgeprägt. Auch die Regierungen reagierten mit weitreichenden Schritten wie der sofortigen Erteilung einer Arbeitserlaubnis für Ukrainer:innen in Deutschland. Dennoch haben solche Maßnahmen für eine spezielle Gruppe Geflüchteter für kontroverse Diskussionen gesorgt. Im Winter 2021/22 hatten Tausende Menschen vor allem aus Syrien, Afghanistan und Irak versucht, die polnisch-belarussische Grenze zu überqueren. Die polnische Regierung versuchte mit allen Mitteln, diese Einreisen zu verhindern, was zu dramatischen und menschenunwürdigen Situationen führte. Die Empörung über die Ungleichbehandlung weißer Flüchtender aus der Ukraine und nicht weißer Flüchtender – von dort oder anderswo her – ist berechtigt. Gleichzeitig sind Erklärungen, dass dies allein auf rassistischen Motiven basiert, unzureichend.

Folgende Aspekte haben bei der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge eine zentrale Rolle gespielt: Dass Nachbarstaaten bei Kriegen die Grenzen für Flüchtlinge öffnen, ist eine gute und sinnvolle Regel. Es gibt international in der jüngeren Vergangenheit kaum Ausnahmen davon. Auf diesen Solidarisierungseffekt können Flüchtlinge von weiter weg leider selten hoffen. Zweitens hatte die im Rahmen des EU-Assoziierungsabkommens mit der Ukraine geregelte Visa-Freiheit zur Folge, dass Ukrainer:innen nach Kriegsausbruch legal in die EU einreisen konnten. Dies trifft in der Regel für Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen, nicht zu. Bei dieser Betrachtung werden andere Rechte, zum Beispiel das Menschenrecht auf Asyl, nicht berücksichtigt. Drittens hat die Angst vor einer weiter reichenden russischen Aggression auch die westeuropäischen Gesellschaften ergriffen und entsprechend zu einem kurzfristig starken Zusammenhalt zwischen den west- und mitteleuropäischen Ländern und der Ukraine geführt.

Moralisch ist die Ungleichbehandlung nicht zu rechtfertigen. Gleichwohl gehören Nachbarschaft und unterschiedlicher Rechtsstatus zur Erklärung dazu, warum die europäischen Gesellschaften bereit waren, Millionen
Menschen aus der Ukraine unbegrenzte Aufnahmegarantie mit allen Rechten zu gewähren, während vergleichsweise kleinen anderen Gruppen von Flüchtlingen – etwa über Belarus oder das Mittelmeer Ankommende – mit härtesten Abwehrmechanismen begegnet wird.

Mit der sogenannten Teilmobilisierung, die Russlands Präsident Putin im September 2022 angeordnet hat, und mit der sich zuspitzenden innenpolitischen Situation verlassen auch mehr und mehr Russ:innen ihr Land. Russischen Deserteur:innen drohen langjährige Strafen, die sie zwingen könnten, auf Dauer im Ausland zu bleiben. Der Krieg gegen die Ukraine wird im Hinblick auf die Lebenssituation der in diesem Kontext geflüchteten Menschen auf die Topografie der Migration in Europa jahrelange Folgen haben.

Viele ukrainische Geflüchtete werden auch im Falle eines baldigen Endes des Krieges nicht in das zerstörte Land zurückkehren. Auch die Annektierung von ukrainischen Gebieten verschärft das Problem der Rückkehr. Die traumatischen Folgen von Flucht und Zerstörung werden die Lebensrealität vieler Menschen bleiben.

Autorin: Johanna Bussemer, Referatsleiterin Europa der Rosa-Luxemburg-Stiftung

30.11.2022, 18:46

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