Plädoyer für eine klimagerechte Verkehrswende

Leseprobe Mit Know-how und Kreativität macht Katja Diehl Lust auf eine Gesellschaft, die gemeinsam eine attraktive und klimafreundliche Zukunft für alle baut. Eine Zukunft, die mehr Lebensqualität bietet und dabei moderne Formen von Arbeit berücksichtigt
Wir brauchen eine Zukunft, die mehr Lebensqualität in Städten und auf dem Land bietet sowie moderne Formen von Arbeit berücksichtigt. Denn: »Jede:r sollte das Recht haben, ein Leben ohne ein eigenes Auto führen zu können.« (Katja Diehl).
Wir brauchen eine Zukunft, die mehr Lebensqualität in Städten und auf dem Land bietet sowie moderne Formen von Arbeit berücksichtigt. Denn: »Jede:r sollte das Recht haben, ein Leben ohne ein eigenes Auto führen zu können.« (Katja Diehl).

Foto: ROB ENGELAAR/ANP/AFP via Getty Images

Das Fahrrad – Symbol feministischer Mobilität

Wenn Sie sich das Deutschland in den 1890er Jahren vorstellen, was sehen Sie in den Straßen unseres Landes?

Sicher keine Autos, denn die gab es damals noch nicht.

Zwar hatte 1888 Bertha Benz (und damit eine Frau!) die erste längere Fahrt mit dem ersten Automobil unternommen,1 Automobile waren aber noch lange nicht massentauglich, sehr wohlhabenden Menschen vorbehalten und standen damit noch ganz am Beginn ihrer Welteroberung.

Sie denken somit vielleicht eher an edle Kutschen und vornehme Damen und Herren, die angemessenen Schrittes die Gehwege herunterspazierten. Aber es gab damals auch schon ein anderes Verkehrsmittel, das sich großer Nachfrage erfreute: das Fahrrad.

Vor allem Arbeiter:innen wussten dieses günstige Verkehrsmittel, das den persönlichen Bewegungsradius deutlich erweiterte, sehr zu schätzen. Sie konnten es selbst reparieren und die ausgebauten Straßen damit nutzen. Frauen erhielten, sehr umstritten und heiß diskutiert, mit diesem Verkehrsmittel emanzipatorische Freiheit in ihrer Mobilität. Waren sie sonst auf das Gutdünken ihres Vaters oder Ehemannes angewiesen, der ihnen für längere Strecken entsprechende Mobilität bereitstellen musste, so bot das Fahrrad völlig unkompliziert zuvor nicht gekannte Freiheit. Und schon dieses Beispiel zeigt: Selbstbestimmte und wahlfreie Mobilität ist hochpolitisch, vor allem, wenn sie bestimmten Gruppen von Menschen exklusiv ermöglicht und anderen vorenthalten wird.

Bis heute ist die Art der Mobilität ein Zeichen von Klassenzugehörigkeit – wenn auch in Sachen Auto sicher enorm aufgeweicht durch irrational attraktive Finanzierungsangebote. Ein Nachbar meiner Eltern arbeitete in einer Bank und sagte immer: »Die dicksten Karren sind geleast.« Oder – um aus Fight Club zu zitieren: »Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen.« In den 1920er Jahren war es deutlicher. Wer zu Fuß ging, gehörte zur Unterschicht, während die Frauen der Oberschicht als fragile Geschöpfe im Haus bleiben mussten und die Herren der Oberschicht ein Automobil besaßen. Somit war die kollektive Wirkung all dieser Aspekte des Fahrrads Symbol der »neuen Frau« des 20. Jahrhunderts – einer Frau, die nicht nur an die Traditionen von Klasse und Kinderkriegen gebunden war.

Radfahrende Frauen waren Ende des 19. Jahrhunderts ein politischer Akt gegen das Patriarchat. Frauenwahlrecht, Bildung, eigenständiges Leben – all das war noch in weiter Ferne. Umso revolutionärer mutete es an, sich auf dem Fahrrad sitzend weibliche Mobilität zu erobern. Für die Suffragetten war das Fahrrad das Mittel für ihre Kampagnen, sie fuhren in den 1910er Jahren mit Transparenten durch die Gegend. Zuvor – in den 1890er Jahren – erklärte die Frauenzeitschrift Godey’s: »Im Besitz ihres Fahrrads fühlt die Tochter des 19. Jahrhunderts, dass die Erklärung ihrer Unabhängigkeit verkündet worden ist.« Viele der Autobauer:innen begannen übrigens mit dem Fahrrad, ohne das die Technik, auf der das Auto heute basiert, nicht entwickelt worden wäre. Adam Opel baute erst Nähmaschinen und Fahrräder. Erst 1898, drei Jahre nach seinem Tod, startete Sophie Opel mit dem Bau von Autos. Auch Henry Ford hob sein erstes Auto auf vier Fahrradlaufräder und brachte die Kraft des Motors durch die Fahrradkette an die Räder. Auch die Dodge-Brüder und die Peugeots verdienten zunächst ihr Geld mit dem Fahrradbau, bevor sie Autos bauten.

Dennoch blieb das Fahrrad als Mobilitätsmittel eher ein Gegenstand der proletarischen Alltagsmobilität von subkulturellen Gruppen. Bürokraft und Verkäuferin waren Berufe, die Frauen ergreifen konnten. Der Krieg an sich brachte keine außergewöhnliche Zunahme der Frauenarbeit mit sich. Es gab aber Verlagerungen, so dass Frauen jetzt Berufe ergriffen, die bisher Männern vorbehalten waren. Die berufstätige Frau wurde damit in der Öffentlichkeit wahrnehmbar – als Arbeitskraft in der Schwerindustrie, an Maschinen und auch als Straßenbahnführerin. Gerade jungen Frauen bot sich die Möglichkeit, früh erwerbstätig zu werden, selbständiger zu leben. Was auch kein Problem war: Arbeit und Leben und Wohnen lagen zu dieser Zeit noch nahe beieinander, 60 Prozent der Wege wurden zu Fuß zurückgelegt. Heute sind es unter fünf Prozent.

Die städtische Mobilität trug mit dazu bei, sich von den sehr kasteienden Reifröcken und der Schichtkleidung zu verabschieden. Wie sollte eine Frau sonst die Stufen einer Straßenbahn hinaufkommen? Wie sollte eine Frau gepresst in ihr Korsett einen langen Arbeitstag hinter Schreibmaschinen oder in Fabriken schaffen? Es gab sogar einen deutschen Verband zur Verbesserung der Frauenkleidung. Inspiriert von Kleidung, die zuvor zum Wandern, Turnen, Fahrradfahren oder Schwimmen entwickelt worden war.

22.02.2022, 19:43

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