Eine außergewöhnliche Frau

Leseprobe Husseins Chancen, die Wahl zu gewinnen, stehen gut. Doch plötzlich machen brisante E Mails zu Sabahs Leben jenseits der öffentlichen Darstellung die Runde. Wer steckt dahinter? Ihre linken Unterstützer sehen rechtsextreme Kräfte am Werk ...
Protestierende auf einer Querdenker-Demonstration in Kassel im März 2021
Protestierende auf einer Querdenker-Demonstration in Kassel im März 2021

Foto: ARMANDO BABANI/AFP via Getty Images

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Wollt ihr absolute Diversität?«, schreit ein junger Mann mit Vielfaltsmerkmal ins Megaphon.
»Ja!«, skandiert die Menge, klatscht und jubelt. »Ja!« Die Demonstrierenden lassen Ballons in Regenbogenfarben in Form eines D steigen. D wie »Diversity«. Alle großen linken Gruppierungen sind vertreten, Antirassismusaktivisten, Kapitalismusgegner, Migrantenorganisationen, Klimaschützer. In ihren Gesichtern stehen Zeichen von Wut und Anspannung, von jahrelangem Kampf. Auf der anderen Seite der Absperrung wettern die Gegner.
»Stoppt die feindliche Übernahme unseres Landes!«, ruft dort ein alter weißer Mann ins Mikrophon. Hinter ihm recken weiße Männer und Frauen Fäuste in die Luft oder halten Plakate hoch. Auf manchen steht »Für meine Heimat«, andere zeigen Bilder von Frauen mit Hijab, mit dicker roter Farbe durchgestrichen. Die Rechten schreien zornerfüllt. Alles, was sie hassen, ist direkt vor ihnen.
Wie zwei Kampfhunde an der Leine, bellend und fletschend und gerade so zurückgehalten, dass sie sich nicht zerfleischen, stehen sich links und rechts vor der Zentrale der Ökologischen Partei gegenüber. Es ist der Tag der Entscheidung. Nur noch wenige Minuten bis 18 Uhr, bis ihr Deutschland vielleicht ein anderes sein wird. Bis Sabah Hussein als erste Muslima zur neuen Bundeskanzlerin gewählt sein wird – oder auch nicht.
An vielen Orten in Deutschland ist die Gewalt bereits eskaliert. »Wo ist die Polizei?«, klagt eine verängstigte ältere Frau in einem Video, das in den sozialen Kanälen tausendfach geteilt wird, während hinter ihr ein Mob zu sehen ist, der Feuer legt, Autos zerstört, weiße Passanten verprügelt. »Fuck white privilege!«, schreien die Protestierenden. Man muss annehmen, dass die Polizei die Chaoten und Schlägertrupps unbehelligt walten lässt. Weil sie offen rechts ist, wurde die Polizei vielerorts durch andere Strukturen ersetzt.
Die rechten Extremisten wüten. Sie nennen sich Heimatkämpfer, vermummte, bullige Gestalten, die es vor allem auf Journalisten und Redaktionsgebäude abgesehen haben. Am Mittag halten plötzlich drei schwarze Vans vor dem Redaktionshaus der Pfote, einem bekannten linken Presseorgan. Binnen Minuten stürmen voll vermummte Extremisten das Gebäude, legen Feuer, schlagen Journalisten zusammen. Kurz darauf posten die Heimatkämpfer Bilder von am Boden liegenden blutüberströmten Journalisten und zertrümmerten Redaktionsräumen. Einige Pfote-Mitarbeiter können sich im Konferenzraum verbarrikadieren, kauern unter Tischen und schicken über Twitter und Instagram Hilferufe nach draußen. Die Antifakämpfer und die muslimische Schariabrigade kündigen an, zur Unterstützung zu kommen und die Heimatkämpfer zu vertreiben.
Überall Gewalt, Eskalation und Hass.
Es ist 17:50 Uhr. Im Netz und auf den Bildschirmen sind Liveaufnahmen geschaltet, die Kameras auf den Balkon der Parteizentrale der ÖP in Berlin gerichtet, auf den sie gleich hinaustreten wird. Sabah Hussein wird eine Ansprache halten an dieses so gespaltene Deutschland.
Sie selbst ist Sinnbild dieser Spaltung, einer Polarisierung, die keine Kompromisse zulässt. Entweder ist man für Sabah Hussein und für all das, wofür sie steht, Weltoffenheit, Diversität, Antikapitalismus, Feminismus, Antirassismus. Oder man ist dagegen. Welche Worte der Versöhnung kann sie finden, welche Taten ankündigen, um den Hass zu lindern? Wie nur kann sie es bewerkstelligen, sie, deren Aufstieg auch erst möglich geworden ist durch den Hass, die Spaltung, die Polarisierung?
Wie auch immer die Wahl ausgeht, wenn sie auf den Balkon tritt, werden die Massen toben und aufeinander losgehen. Und so steht für viele über all dem Lärm, den Parolen und der Gewalt an diesem Tag eine einzige Frage:
Wie konnte es so weit kommen?

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DREI MONATE ZUVOR

Sabah Hussein sitzt in einem Dienstwagen der Staatskanzlei. Die Hände hat sie auf das schwarze Leder gelegt, die kühle Glätte des Leders beruhigt sie. Die Fingernägel sind grellrot lackiert. Lidstrich, Lippenstift, alles perfekt. Sabah ist vor kurzem vierundvierzig geworden, aber sie sieht jünger aus. Sie achtet genau auf ihr Gewicht und darauf, was sie isst. Wegen des Glaubens trinkt sie keinen Alkohol. Jeden zweiten Morgen geht sie joggen oder macht Yoga, bevor sie das Tagesprogramm beginnt. Disziplin ist ihr wichtig. Sie verkauft ihre Politik auch durch ihr Auftreten. Vielleicht sogar vor allem durch ihr Auftreten.
Als »Kleopatra der deutschen Politik« bezeichnete sie ein Journalist einmal – und spielte dabei wohl auf ihre orientalische Erscheinung an, auf ihre Nase und auf die modischen Röcke, Schuhe und Kleider, die stets sitzen. Und die sie noch auffälliger machen, als sie ohnehin ist.
Überhaupt geht es immer vor allem darum, dass sie da ist. Die Frau, die Migrantin, die Muslima. Ihre Präsenz ist Programm. Verheißung für die einen, Provokation für die anderen. Symbol für eine weltoffene Gesellschaft, weil sie von ganz unten kometenhaft nach ganz oben kam. Und Symbol für Deutschlands kulturelle Übernahme, weil sie als Muslima allen anderen vorgezogen wurde. Um Inhalte musste sie sich lange nicht kümmern. Sie selbst war Inhalt genug. Selbst jetzt, als Kanzlerkandidatin, beschäftigt sich die Öffentlichkeit weniger mit dem, was sie sagt, als vielmehr damit, dass sie im Rampenlicht steht. Und mit der Frage: Darf sie, die Muslima, da sein, wo sie ist, und sich dahin bewegen, wo sie noch hinwill? Oder darf sie das nicht?
Im Rückspiegel treffen sich ihr Blick und der des Fahrers. Es ist nur flüchtig, und sie sprechen kein Wort, sie fühlt seine ablehnende Haltung. Sie wendet sich ab und schaut aus dem Fenster, sieht die Stadt an sich vorbeiziehen.
Dresden. Nirgendwo fühlt sich die Kanzlerkandidatin der Ökologischen Partei fremder als in Sachsen. Hier gehört sie nicht hin. Der spießige, rückwärtsgewandte Landstrich mit seinen kleinbürgerlichen Wohnzeilen. Die Enge der Platten passt zur Enge im Denken. Sie fahren durch Dresden-Friedrichstadt, vorbei an der Yenidze. Das ehemalige Fabrikgebäude ist einer Moschee nachempfunden und fällt auf in dieser so deutschen Umgebung. Heute ist es ein Bürokomplex.
»Gleich sind wir da«, sagt Jette.
Jette ist Sabahs wichtigste Mitarbeiterin, ihre Büroleiterin. Die Frauen schauen sich einen Moment an, bevor die Kanzlerkandidatin mit dem Kopf nickt und Jette wieder auf ihr Handy blickt. Seit fünf Jahren sind sie das Powerduo der deutschen Politik. Sabah ist der Star und Jette die Managerin. Ein Erfolgsteam, zuerst belächelt und inzwischen gefürchtet. Vor allem jetzt, da sie so kurz davorstehen, ins Kanzleramt einzuziehen.
Sabah weiß, dass sie ohne Jette nie so weit gekommen wäre. Sie suchte von Anfang an jemanden, dem sie voll und ganz vertrauen konnte. Es musste eine Frau sein, so viel stand fest. Jettes Direktheit gefiel ihr. Manch einer würde sie für unhöflich halten, weil sie sich nichts macht aus Small Talk und übertriebener Freundlichkeit. Schnell zum Punkt kommen. Zielstrebig und effizient. Das ist Jette.
Wie zwei Freundinnen reden Sabah und Jette miteinander, und doch sind sie distanziert. Sabah soll es recht sein, sie mag es nicht, wenn jemand sie zu gut kennt. Genau wie Jette. Obwohl sie sich fast jeden Tag sehen und ständig telefonieren oder Nachrichten austauschen, weiß Sabah wenig über Jettes Leben vor ihrer gemeinsamen Zeit. Auch hat sie keine Vorstellung davon, was Jette macht, wenn sie nicht arbeitet. Sport wahrscheinlich, zumindest wirkt sie so. Sie hat eine durchtrainierte, schlanke Figur. Und offenbar interessiert sie sich auch für Mode, wie Sabah.
Konkurrenzgefühle kommen – was Äußerlichkeiten angeht – bei Sabah nicht auf. Sie hält sich für die attraktivere Frau. Jettes Nase ist etwas zu groß, und ihre glatten, schulterlangen blonden Haare sind zu durchschnittlich, zu normal, während Sabahs Frisuren immer bestechend auffällig sind. Sie trägt die Haare mal hochgesteckt, mal in Wellen gelegt, mal zur Mähne geföhnt.
Die Limousine fährt am Neumarkt vor. Sabah steigt aus, die Absätze ihrer High Heels klackern auf dem Kopfsteinpflaster. Sie zieht den knöchellangen Rock zurecht und blickt gespannt in die Menge.
»Wir sind das Volk!«, rufen die Menschen auf dem Platz vor der Frauenkirche. Fünftausend Demonstranten seien gekommen, sagt die Polizei, zehntausend, sagen die Veranstalter. Der Platz ist umringt von Polizisten. Die Bewegung der regelmäßig stattfindenden »Islam? Nein danke«-Demo gibt es schon seit über einem Jahr, aber seitdem bekannt geworden ist, dass Sabah Hussein aussichtsreiche Kandidatin für das Amt der Bundeskanzlerin ist, findet sie immer mehr Anhänger und wächst rasant. Angeführt wird der Aufmarsch von einer Truppe aus Nationalisten, Europagegnern und Islamhassern. Dresden ist als Deutschlands braunes Biotop verschrien, wo sich die rechten Ränder des Landes öffentlichkeitswirksam versammeln und grölen.
Sabah geht auf die Demonstranten zu. Die Menschen machen ihr Platz, vielleicht weil sie nicht mit ihr reden wollen, vielleicht weil sie die Kamerateams sehen. Neben dem Haupteingang zur Frauenkirche skandiert die Menge: »Deutschland, Deutschland!«
Sabah ruft: »Ich bin auch Deutschland!«
Das Gegröle verstummt. Die Demonstranten schauen sie wutentbrannt an. Sabah fragt ruhig: »Was haben Sie denn gegen Menschen wie mich?« Aufruhr, Tumult. »Verpiss dich, du Islamnutte«, schreit einer ihr ins Gesicht. »Scheiß Lügenpresse!«, grölt einer dem Kamerateam hinter ihr zu. Mehrere Männer recken Fäuste in die Luft, die Gesichter dunkelrot vor Zorn.
Sabah schreckt zurück. Ein Personenschützer schiebt sich vor sie. Die Stimmung droht gefährlich zu werden. »Abbruch, sofort!«, ruft der Mann. Die Kanzlerkandidatin wird umringt von Sicherheitskräften. Sie eskortieren Sabah zurück zum Auto. Flink schlüpft sie in den Wagen, und einer der Männer schlägt die Tür hinter ihr zu.
»Die Szene ist toll! Wie der dich beleidigt!«
Jette hat alles mit dem Handy aufgezeichnet. Sie schaut sich das Video noch einmal an, schneidet es rasch zurecht. Sie lädt es auf Sabahs offizielle Accounts hoch und kommentiert: »Ich bin traumatisiert. Man hat mich angeschrien, attackiert, angegriffen. Aber: Ich gebe nicht auf, für eine offene und gerechte Gesellschaft zu kämpfen!« Dazu notiert sie die Hashtags #Deutschland #Dresden #Frauenkirche #Islam #Rassismus #Solidarität #ToxischeMännlichkeit und #migrantsunderattack.
Dann geht alles sehr schnell. Wie erwartet, berichten alle großen Online-Nachrichtenseiten – Globus, Echo, Bote – innerhalb einer Stunde über Sabahs Auftritt in Dresden. »Nazis greifen künftige Kanzlerin an.« Und »Brauner Mob attackiert Deutschlands muslimische Kanzlerkandidatin!« #Dresden und #Frauenkirche trenden in den sozialen Netzwerken, außerdem #Rassismus und #IchbinmitSabah.
Jettes Telefon klingelt. »Es ist Rania«, sagt sie. Nach zwei Minuten legt sie auf. »Sie macht nächsten Donnerstag eine Sendung zu Rechtsextremismus. Sie will dich dabeihaben. Der Arbeitstitel ist ›Wutbürger:innen gegen die Friedensreligion des Islam‹. Sabah, es könnte nicht besser laufen!«
Auch Sabah ist klar: Das ist gut. In der Politik zählt Aufmerksamkeit. Sie halten vor dem Hotel Taschenbergpalais, ein Fünfsternehaus in renovierter barocker Pracht. Früher nannte man den Bau wegen seiner orientalischen Einrichtung »Türkisches Palais«. Zu sehen ist davon nichts mehr. Im Innenhof lassen sie den Abend ausklingen. Jette trinkt Weißwein, Sabah Bionade. In der Ferne hören sie die Menge grölen.
»Necdum positus metus aut redierat plebi spes«, sagt Jette. »Du weißt, ich hasse es, wenn du mit deinem Latein angibst.«
»Und noch nicht legte sich die Furcht, oder schöpfte das Volk wieder Hoffnung. Es ist ein Zitat aus Tacitus’ Beschreibung des Brandes von Rom. Unbehelligt saß Kaiser Nero in seinem Palast, von fern hörte er die Menschen schreien.«
»Aber das ist doch etwas ganz anderes.« »Das Schreien in der Ferne? Zornige, verzweifelte Menschen ohne Hoffnung? Das ist immer gefährlich.« »Jette, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. In Deutschland. Wer kann uns schon wirklich etwas wollen?« Jette machen der Hass und die Ablehnung mehr zu schaffen als Sabah. »Nero kam am Ende um. Wegen der Flammen, die er entfacht hatte.« »Aber Nero war der Böse, und wir sind die Guten«, sagt Sabah und nimmt einen Schluck Bionade.
06.05.2021, 08:54

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