Ermutigung zum Widerstand

Leseprobe Trina, Hauptfigur in „Ich bleibe hier“ zeichnet sich durch unbeirrbare Stärke aus. Mit ihr erzählt Marco Balzano eine Geschichte von Leid, Widerstand und Mut – eine universelle Parabel darüber, was uns Menschen ausmacht und wofür wir einstehen müssen
Ermutigung zum Widerstand

Foto: Fox Photos/Hulton Archive/Getty Images

I

Du weißt nichts über mich, und doch weißt du viel, weil du ja meine Tochter bist. Den Geruch der Haut, die Wärme des Atems, die angespannten Nerven hast du von mir. Deshalb wende ich mich an dich wie an jemanden, der mein Innerstes kennt. Ich könnte dich bis ins Kleinste beschreiben. Hin und wieder, wenn am Morgen hoher Schnee liegt und die Wohnung in eine beklemmende Stille gehüllt ist, kommen mir immer noch weitere Einzelheiten in den Sinn. Vor einigen Wochen fiel mir der kleine Leberfleck auf deiner Schulter ein, auf den du mich jedes Mal hingewiesen hast, wenn ich dich im Zuber badete. Du warst wie besessen davon. Oder diese Locke hinter dem Ohr, die einzige in deinen honigfarbenen Haaren.
Die wenigen Fotos, die ich noch habe, hole ich nur selten hervor, mit der Zeit ist man nah am Wasser gebaut. Und ich hasse es zu weinen. Ich hasse es zu weinen, weil es idiotisch ist und weil es mich nicht tröstet. Hinterher fühle ich mich bloß erschöpft, ich mag dann nichts mehr zu mir nehmen oder vor dem Schlafengehen mein Nachthemd anziehen. Doch man muss auf sich achten, die Fäuste ballen, auch wenn die Haut der Hände fleckig wird. Kämpfen, trotz allem. Das hat mich dein Vater gelehrt.

In all den Jahren habe ich mir immer vorgestellt, dass ich eine gute Mutter gewesen wäre. Selbstbewusst, strahlend, liebenswürdig ... lauter Adjektive, die gar nicht zu mir passen. Im Dorf nennen sie mich immer noch Frau Lehrerin, aber sie grüßen mich nur im Vorübergehen, sie bleiben nicht stehen. Sie wissen, dass ich kein umgänglicher Mensch bin. Manchmal fällt mir das Spiel wieder ein, das ich die Kinder in der ersten Klasse Grundschule machen ließ. »Malt das Tier, das euch am ähnlichsten ist.« Ich würde jetzt eine Schildkröte mit eingezogenem Kopf malen.
Ich bilde mir gern ein, dass ich keine aufdringliche Mutter gewesen wäre. Ich hätte dich nicht, wie meine Mutter es tat, dauernd gefragt, wer dieser oder jener ist und ob du ihn magst oder vorhast, dich mit ihm zu verloben. Aber vielleicht mache ich mir auch da etwas vor, und wenn du hier gewesen wärst, hätte ich dich mit Fragen überhäuft und dich bei jeder ausweichenden Antwort scheel angeschaut. Je mehr Jahre vergehen, umso weniger fühlt man sich den eigenen Eltern überlegen. Und wenn ich jetzt Vergleiche anstelle, komme ich eindeutig schlechter weg. Deine Großmutter war kantig und streng, sie hegte über alles klare Vorstellungen, unterschied mühelos Weiß von Schwarz und fällte wie mit dem Beil und ohne zu zögern ihre Urteile. Ich dagegen verlor mich in allen Schattierungen von Grau. Ihrer Ansicht nach war das Studium daran schuld. Sie hielt alle, die eine Schulbildung hatten, für unnötig schwierige Menschen. Faulpelze, Besserwisser und Haarspalter. Ich dagegen glaubte, das größte Wissen liege im Wort, besonders für eine Frau. Egal ob Fakten, Geschichten, Legenden, Hauptsache war, man legte sich einen Vorrat davon an und hatte sie parat für den Moment, in dem das Leben komplizierter oder leerer wurde. Ich glaubte, sie könnten mich retten, die Wörter.

II

Männer haben mich nie interessiert. Die Vorstellung, Liebe könnte etwas mit ihnen zu tun haben, fand ich lächerlich. Für mich waren sie zu plump oder zu behaart oder zu grob. Manchmal alles zusammen. Hier in der Gegend besaßen die meisten ein Stück Land und etwas Vieh, und das war der Geruch, den sie mit sich herumtrugen. Stall und Schweiß. Hätte ich mir vorstellen müssen, mit jemandem zu schlafen, dann lieber mit einer Frau. Lieber die harten Wangenknochen eines Mädchens als die kratzige Haut eines Mannes. Am liebsten aber wollte ich allein bleiben, ohne irgendwem Rechenschaft schuldig zu sein. Sogar Nonne zu werden hätte mir nicht missfallen. Doch der Gedanke an Gott war schon immer zu schwierig, wenn er mir in den Sinn kam, verirrte ich mich darin.

Erich war der Einzige, den ich anschaute. Ich sah ihn immer im Morgengrauen vorbeigehen, die Mütze in die Stirn gezogen und schon um diese Zeit eine Zigarette im Mundwinkel. Jedes Mal wollte ich mich zum Fenster hinausbeugen und ihn grüßen, doch hätte ich es geöffnet, hätte Mutter die Kälte eindringen gespürt und bestimmt gerufen, ich solle sofort zumachen. »Trina, bist du verrückt geworden«, hätte sie gekreischt. Mutter war eine, die ständig kreischte. Doch selbst wenn ich das Fenster geöffnet hätte, was hätte ich ihm denn sagen sollen? Mit siebzehn Jahren war ich so gehemmt, dass ich höchstens herumgestottert hätte. Daher schaute ich ihm nach, wie er sich zum Wald hin entfernte, während Strupp, sein Hund, die Herde vorwärtstrieb. Wenn Erich mit den Kühen unterwegs war, bewegte er sich so langsam, dass es aussah, als käme er nicht vom Fleck. Also senkte ich den Blick auf die Bücher, sicher, ihn an derselben Stelle wiederzusehen, doch wenn ich den Kopf hob, war er nur noch eine winzige Gestalt am Ende der Straße. Unter den Lärchen, die es nicht mehr gibt.
In jenem Frühjahr saß ich immer häufiger mit dem Bleistift im Mund vor den aufgeschlagenen Büchern und dachte an Erich. Als Mutter, die sonst oft in meiner Nähe herumhantierte, einmal nicht da war, fragte ich Vater, ob das Leben der Bauern nicht etwas für Träumer sei. Wenn man den Gemüsegarten geharkt hat, kann man mit den Tieren auf die Weide gehen, sich auf einen Felsen setzen und in der Stille den Fluss betrachten, der seit Jahrhunderten gemächlich dahinfließt, den kalten Himmel, von dem man nicht weiß, wo er endet. »Das alles können die Bauern doch machen, nicht wahr, Vater?« Vater schmunzelte, mit der Pfeife im Mund. »Frag mal den Jungen, den du morgens heimlich am Fenster beobachtest, ob seine Arbeit etwas für Träumer ist ...«

Zum ersten Mal habe ich vor dem Haus mit ihm gesprochen. Vater arbeitete als Schreiner in Reschen am See, doch auch daheim bei uns ging es zu wie in seiner Werkstatt. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Leuten, die etwas repariert haben wollten. Mutter schimpfte, nie könne man seine Ruhe haben. Er, der keinen noch so kleinen Vorwurf im Raum stehenlassen wollte, antwortete, da gebe es überhaupt nichts zu meckern, denn für einen Unternehmer gehöre es zur Arbeit, jemandem ein Glas anzubieten oder einen Schwatz zu halten, damit gewinne man nämlich die Kunden. Um die Diskussion abzubrechen, zog sie ihn an seiner Knollennase. »Die ist ja noch länger geworden«, sagte sie zu ihm. »Und bei dir ist der Arsch dicker geworden!«, erwiderte er. Mutter wurde dann laut: »Da sieht man mal, was ich geheiratet habe, einen Trottel!« Sie warf einen Lappen nach ihm. Vater grinste und warf den Bleistift nach ihr, sie noch einen Lappen, er noch einen Bleistift. Sich Sachen an den Kopf zu werfen war für sie ein Ausdruck der Zuneigung.
An jenem Nachmittag standen Erich und Vater rauchend beieinander und betrachteten mit zusammengekniffenen Augen die Wolken, die sich über dem Ortler zusammenballten. Vater sagte zu ihm, er solle einen Augenblick warten, er wolle nur rasch ein Gläschen Schnaps holen. Erich war einer, der gewöhnlich statt zu reden bloß das Kinn hob und ein Lächeln andeutete, so selbstsicher, dass ich mich daneben klein fühlte. »Was machst du nach dem Studium? Wirst du Lehrerin?«, fragte er mich jetzt. »Ja, vielleicht. Vielleicht gehe ich auch ganz weit weg«, erwiderte ich, nur so, um eine erwachsene Antwort zu geben. Sein Gesicht wurde finster. Er zog so heftig an seiner Zigarette, dass er sich an der Glut beinahe die Finger verbrannt hätte. »Ich würde nie aus Graun fortwollen«, sagte er und wies auf das Tal.
Daraufhin sah ich ihn an wie ein kleines Mädchen, dem die Worte fehlen, und Erich strich mir zum Abschied über die Wange. »Sag deinem Vater, den Schnaps trinke ich ein andermal.«
Ich nickte stumm. Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, schaute ich ihm nach, während er davonging. Ab und zu warf ich einen Blick zur Tür, da ich fürchtete, Mutter könnte plötzlich herauskommen. Manchmal fühlt man sich wie eine Diebin, wenn Liebe im Spiel ist.

24.06.2020, 11:00

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