Von außen und innen: Unsere Zivilisation

Leseprobe Im Dschungel hat Sabine Kuegler gelernt, unsichtbar zu werden, um zu überleben – in der westlichen Welt dagegen muss man sichtbar sein. Sie wurde darauf trainiert, ihre Welt mit allen Sinnen wahrzunehmen, aber hier sind sie permanent überreizt...
In den Hauptstädten alltäglich: Menschenmassen, die eine:n umgeben
In den Hauptstädten alltäglich: Menschenmassen, die eine:n umgeben

Foto: Carsten Koall/Getty Images

Prolog

Nomansland, Papua-Neuguinea, 2016

Mit einem Ruck fuhr ich hoch. Ich schwitzte stark und mir war schrecklich übel. In meinem Kopf drehte sich alles rasend schnell. Ich kroch an den Rand der Holzplattform, die wie in vielen Gegenden Papua-Neuguineas vor dem Haus stand, und übergab mich. Meine Eingeweide fühlten sich an, als seien sie zu Tausenden engen Knoten gewickelt. Mir war heiß, als stünde ich in Flammen. Ich kroch zurück auf die Matte und legte mich hin. Eine kühle Hand hob meinen Kopf an. Ich fühlte Wasser auf meinen Lippen und hörte eine Stimme, die mir sagte, ich solle trinken. Ich erbrach es sofort. Ich trank wieder, diesmal in kleineren Schlucken. Doch wieder konnte ich nichts bei mir behalten. Ich fiel in einen unruhigen Schlaf und als ich erneut aufwachte, ging es mir noch schlechter.

Die nächsten Tage haben nur Bruchstücke in meinem Gedächtnis hinterlassen. Ich erinnere mich daran, wie ich in die Hütte getragen wurde, an den brennenden Schmerz, der sich in meinem Körper ausbreitete, an die Krämpfe in meinen Muskeln, an die sengende Hitze, die mich schreien ließ. An das Erbrechen von Blut, das meine Decke rot färbte, an die ständigen, stechenden Kopfschmerzen, die so stark waren, dass ich meinen Kopf auf den Boden schlagen wollte, um den Schmerz zu stillen. Ich fühlte mich wie in der Hölle, bettelte, weinte und schrie um Linderung, bis ich in die Dunkelheit zurückfiel, nur um wieder in die Welt der Lebenden zurückzukehren und der ganze Kreislauf aus Schmerzen, Erbrechen und Schreien von Neuem begann.

Es muss der dritte Tag gewesen sein, als ich mich nicht mehr bewegen konnte. Die Schmerzen waren unerträglich, ich hatte die Kontrolle über alle Körperfunktionen verloren. Ich schien nur noch eine leere Hülle aus Fleisch und Knochen zu sein. Meine Kleider waren mit Schweiß, Blut und Körperflüssigkeiten getränkt. Als ich aufblickte, sah ich ein bekanntes Gesicht. Micky weinte und ich wusste, dass etwas schiefgegangen war. Anstatt ein Heilmittel zu finden, tötete es mich. Seine Stimme sagte immer wieder: »Es tut mir leid, es tut mir leid.« Im Hintergrund hörte ich Trauergesänge. Der ganze Stamm hatte sich draußen versammelt, um mir die letzte Ehre zu erweisen und meine Seele ins Jenseits zu schicken.

Ich schloss die Augen, wollte weinen, aber es kamen keine Tränen, mein Körper war völlig dehydriert, trotz des Wassers, das mir in die Kehle gezwungen wurde. »Es ist nicht deine Schuld, Micky«, dachte ich, aber ich war zu schwach, um zu sprechen. »Das muss mein Schicksal sein«, war mein einziger Gedanke. Mickys Stimme klang weit weg, die Trauergesänge verklangen, bis ich sie nicht mehr hören konnte. Als ich so dalag, spürte ich plötzlich, wie eine eigenartige Ruhe über mich kam. Ich streckte die Hand aus und ergriff seine. So würde ich wenigstens nicht allein sterben. Das Letzte, was ich sah, waren die Gesichter meiner Kinder. »Es tut mir so leid«, flüsterte ich. Dann wurde alles schwarz.

Ursprung

Ich lebte einst in einer farbenfrohen und magischen Welt. Es gab kein Gestern oder Morgen, nur eine nie endende Gegenwart. Mein Geist war frei wie die Vögel, die durch den tiefblauen Himmel flogen. Ich kannte keine schlimmen Erinnerungen an die Vergangenheit, keine Gefühle des Versagens oder der Verzweiflung, die mich nachts quälten, keine Zukunftsängste. Vergangenheit und Zukunft existierten für mich nicht. Nur die endlose Gegenwart füllte jeden Augenblick mit der Intensität des Lebens um mich herum. Jeder Atemzug war wie eine sanfte Brise an einem heißen Tag. Alles pulsierte mit Energie, wunderschöne Farbschattierungen ruhten wie der Morgentau auf allem, was in dieser Welt lebte. Die Schönheit der Natur versetzte mich in endloses Staunen, von dem Moment an, wo die Sonne morgens prachtvoll aufging, bis sie abends glühend unterging. Winzige weiße Blumen bedeckten das Unterholz des riesigen Urwalds wie ein weicher weißer Teppich und schufen kleine Oasen des Lichts und der Magie, die mich in ihrer Vollkommenheit faszinierten.

Selbst der Tod machte mich damals nicht traurig. Für mich war klar, nur der physische Körper kehrt in die Erde zurück, während die Seele als endlose Energie des Lichts ihre einzigartige Reise fortsetzt. In warmen Nächten lag ich im Gras und schaute in den sternenübersäten Himmel. Wenn ich lange genug hinschaute und mich auf die winzigen Lichter konzentrierte, streckten sie sich zu mir aus und zogen mich tief in das Universum hinein. Dort hielt ich Ausschau nach den Seelen, die durch den schwarzen Kosmos rasten mit einer Lichtspur im Schlepptau. Ich winkte ihnen zu, wenn sie vorbeiflogen, fragte mich, wohin ihre Reise wohl gehen würde, und wünschte ihnen alles Gute.

Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass sich mein Leben je wirklich ändern würde. Ich war überzeugt, dass es so unbeschwert sein würde wie die weißen Wolken, die an einem sonnigen Tag gemächlich vorbeiziehen. Ich hatte keine Ahnung, was das Leben an unvergleichlichen Erlebnissen für mich bereithalten würde.

Meine Geschichte beginnt an dem Tag, an dem mein Vater das Volk der Fayu entdeckte. Von dem Zeitpunkt an prallten in mir zwei Welten aufeinander. Denn ich trage die Kultur, die Psychologie, die Mentalität und die Spiritualität zweier nicht nur unterschiedlicher, sondern in Teilen auch gegensätzlicher Gesellschaften in mir. Daraus entstand ein innerer Konflikt, der jahrelang in mir tobte. Es fühlte sich an, als würden zwei völlig verschiedene Seiten von mir gegeneinander kämpfen und mich fast zerreißen.

Mein Leben verlief in jeder Hinsicht außergewöhnlich, voll extremer Höhen und Tiefen, gespickt mit unvorstellbaren Abenteuern, abgöttischer Liebe, absoluter Schönheit, schlimmstem Schmerz und erschütternden Tragödien. Die Menschen sind von meiner Vergangenheit fasziniert, doch ich kann ihnen nicht sagen, woher ich komme. Ich bin zwischen zwei Welten gefangen. In einer existiert der Lauf der Zeit nicht, wie wir ihn im Westen kennen, materielle Dinge haben dort keine Bedeutung. In der anderen wird das Leben von der Zeit beherrscht, dort wird jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde berechnet und geplant, die materiellen Aspekte des Lebens bestimmen das Schicksal des Menschen.

Trotz meiner Zerrissenheit möchte ich kein anderes Leben führen. Ich hatte eine zauberhafte und wunderschöne Kindheit und Jugend, nie würde ich sie gegen eine westliche Erziehung eintauschen wollen. Es war ein Leben, das perfekt zu mir passte und unendlich schien. Ich habe Dinge gesehen und erlebt, die die allermeisten nur aus Büchern oder Filmen kennen. Doch dieses Leben hat eine Kehrseite, die dunkel und grausam ist.

Kinderjahre in Nepal

Geboren wurde ich am 25. Dezember 1972 in Patan, Nepal. Meine Eltern, Doris und Klaus-Peter, arbeiteten dort als Sprachwissenschaftler und Missionare mit einem kleinen Stamm, den Danuwari, die in der Terai-Ebene an der Grenze zu Indien lebten. Meine Eltern stammen ursprünglich aus Deutschland, hatten die Annehmlichkeiten der westlichen Zivilisation aufgegeben und waren schon vor meiner Geburt nach Nepal gezogen. Ich habe eine ältere Schwester namens Judith, mein jüngerer Bruder heißt Christian. Wir lebten in dem kleinen Dorf Hatitunga. Unser Haus war ein einfacher Lehmbau mit einem Strohdach, einem Lehmboden und einer Holztür. Ein Baumstamm mit ein paar Kerben diente als Leiter, über die man ein kleines Schlafzimmer und einen schmalen Balkon erreichen konnte. Wenn die Nächte kalt wurden, schliefen wir zusammengekauert im Schlafzimmer, die heißen Nächten verbrachten wir auf dem Balkon. Gekocht wurde auf einem Kerosinherd, gegessen am Boden auf einer geflochtenen Matte. Fließendes Wasser gab es nicht, wir wuschen uns im nahe gelegenen Fluss. Er diente außerdem zum Waschen der Wäsche, und wir holten das Wasser zum Kochen und Trinken daraus. Die meisten unserer Lebensmittel brachten wir aus der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu mit, manchmal verkauften uns die Danuwari Gemüse, das sie selbst angebaut hatten. Obwohl das tägliche Leben für meine Eltern eine Herausforderung war, war das Dorf für uns Kinder eine wunderbare Umgebung. Die meiste Zeit verbrachte ich draußen, spielte mit den Kindern aus der Umgebung, hütete Ziegen mit den älteren Kindern oder schwamm im Fluss. Darüber hinaus habe ich nur wenige Erinnerungen an mein Leben in Hatitunga.

Kurz vor meinem vierten Geburtstag mussten wir als Ausländer aus politischen Gründen das Land sehr plötzlich verlassen. Für meine Eltern, die geplant hatten, auf unbestimmte Zeit in Nepal zu bleiben, war das ein großer Schock. Wir packten unser Hab und Gut zusammen, verabschiedeten uns von den Danuwari und machten uns auf den Weg nach Deutschland – in ein Land, das ich nicht kannte.

Von Anfang an fühlte ich mich fremd in der ungewohnten neuen Umgebung, die meine Eltern ihr Zuhause nannten. Sie meldeten mich im Kindergarten an, ich erinnere mich noch gut an den ersten Tag, an dem meine Mutter mich in einen Raum voller hellhäutiger Kinder brachte, deren Haare noch weißer waren als ihre Haut. Sie wirkten seltsam und fremd auf mich. Ich war verwirrt, dass weder die Kinder noch die Erzieherinnen Englisch, Nepalesisch oder Danuwari verstanden, geschweige denn sprachen. Auf mich wirkten die Kinder sehr aggressiv, das war am schlimmsten für mich. Ich empfand sie als laut und aufdringlich, sie stritten sich um Spielzeug oder darum, wer während der Märchenstunde neben wem sitzen durfte. Einmal verletzte ein Junge einen anderen im Streit schwer mit einer Schere am Kopf. Ungläubig verfolgte ich die chaotische Szene, die sich vor meinen Augen abspielte. Mich hat der Vorfall nachhaltig beeindruckt, in Nepal hatte ich so etwas noch nicht erlebt.

Die Monate gingen ins Land, ich lebte mich ein wenig ein. Doch eines Morgens war ich verschwunden. Meine Eltern suchten überall nach mir, ohne Erfolg. Schließlich verständigten sie die Polizei. Für meine Eltern begannen qualvolle Stunden. Gegen Mittag ging bei der Polizeistation ein Anruf von einer Autobahntankstelle ein. Mobiltelefone gab es damals noch nicht. Gemeldet wurde ein kleines Kind auf einem roten Dreirad, das auf dem Seitenstreifen fuhr. Voller Entschlossenheit fuhr es geradeaus, guckte weder nach rechts und links oder gar nach hinten. Ein Polizeiwagen kam hinter mir zum Stehen und einer der Beamten fragte mich, wohin ich wolle. Ich erzählte ihnen, dass ich auf der Suche nach meinem Zuhause sei, nach meinen Bergen. Obwohl ich schon fast zwei Jahre in Deutschland war, muss ich immer noch furchtbares Heimweh gehabt haben.

Umso glücklicher war ich, als meine Eltern uns einige Wochen später mitteilten, dass sie eine neue Aufgabe bekommen hatten und wir Deutschland bald verlassen würden. Ich war erst fünf Jahre alt, noch zu klein, um zu begreifen, wohin genau wir gehen würden, aber voller Vorfreude bereitete ich mich auf dieses neue Abenteuer vor. Als wir unsere Sachen packten und uns von Familie und Freunden verabschiedeten, ahnte keiner von uns, welch unglaubliches Abenteuer uns bevorstand. Eine Reise, die für mich auf den höchsten Gipfeln der Welt begonnen hatte und uns in tiefes, sumpfiges Gelände führen würde, auf die indonesische Insel Neuguinea im Südpazifik.

In West-Papua erwartete mich eine völlig neue, aufregende Welt. Wir wohnten zunächst in einem kleinen Gästehaus in Abepura, einer Stadt etwa dreißig Autominuten von der Provinzhauptstadt Jayapura entfernt. Ich nahm alles mit großer Begeisterung auf: die neuen Geräusche, Gerüche, die Vegetation und die Menschen. Es dauerte nur ein paar Wochen, bis wir anfingen, uns mit den Kindern in unserer Nachbarschaft anzufreunden und ihre Sprache zu sprechen. In dieser Zeit lernte ich auch eine meiner ersten indonesischen Freundinnen kennen, sie hieß Mari. Ihre Familie wohnte ein paar Straßen weiter, und sie kam fast jeden Tag, um mit mir zu spielen. Durch sie und ihre Familie konnte ich die indonesische Kultur kennenlernen, für mich war sie voller neuer Erfahrungen. Ich war fasziniert von der Art und Weise, wie die Menschen ihren Alltag lebten, wie sie mit Armut, Krankheit und Familienproblemen umgingen, wie sie lachten, liebten oder wie sie trauerten.

Kurz nach unserer Ankunft in Indonesien wurde mein Vater von einer weltweit tätigen Sprachforscher-Organisation gebeten, mit einem damals gerade neu entdeckten Stamm, den Fayu, Kontakt aufzunehmen. Seine Aufgabe sollte darin bestehen, mehr über den unbekannten Stamm herauszufinden, auch und vor allem, welche Sprache sie sprachen. Über sie war fast nichts bekannt, nicht einmal, wo genau sie zu Hause waren und wie viele sie waren. Nachdem er mit meiner Mutter darüber gesprochen hatte und ihr Einverständnis erhalten hatte, nahm mein Vater den Auftrag an. Das größte Abenteuer unseres Lebens begann.

13.11.2023, 12:30

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