Gesellschaftliche Ausgrenzung

Leseprobe Was bedeutet es, in einem reichen Land in Armut aufzuwachsen? Zur „Unterschicht“ zu gehören und dafür ausgelacht und ausgegrenzt zu werden? Diese und Fragen zu Herkunft, Scham und fehlende Privilegien, diskutieren die Autor*innen in ihren Essays...
Sozialkaufhaus in Berlin-Gropiusstadt
Sozialkaufhaus in Berlin-Gropiusstadt

Foto: Tobias SCHWARZ / AFP

Vorwort

Was von Menschen geschaffen wurde, kann von Menschen verhindert werden. Leider ist das alles andere als selbstverständlich, denn der zentrale Mythos der marktkonformen Demokratie ist auch ihr Erfolgsrezept. Viele Leute glauben tatsächlich, die Okönomie sei nicht dem Willen der Gesellschaft unterworfen, sondern den Naturgesetzen. Wer von der Ungerechtigkeit profitiert, biegt sie sich zurecht. Das Leben sei nun mal unfair. Ungleichheit sei ein wichtiger Anreiz, sich anzustrengen. Wer reich sei, habe sich etwas erarbeitet; und wer arm sei, eben nicht. Es könne nur ausgegeben werden, was zuvor erwirtschaftet worden sei. Ohnehin sei Deutschland längst eine in Milieus ausdifferenzierte Gesellschaft durchlässiger Schichten, in der alle bei entsprechender Leistung alles erreichen konnten.

Was diese Sätze außer Acht lassen: Es gibt sehr wohl noch immer soziale Klassen. Zieht man die Trennung von Produktionsmitteln und die abhängige Lohnarbeit als Kriterien heran, dann war der Grad an Ausbeutung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sogar nie größer als heute. Ausbeutung ist dabei keine moralische Kategorie. Gemeint sind damit also nicht nur niedrige Löhne oder schlechte Arbeitsbedingungen. Es geht vielmehr darum, dass die Lohnabhängigen lediglich einen Tei1 des von ihnen neu produzierten Wertes erhalten. Ausbeutung bedeutet nicht, wie häufig angenommen, einen Verstoß gegen kapitalistische Regeln, sondern resultiert notwendig aus der Befolgung dieser Regeln.

Dazu zählt auch die sekundäre Ausbeutung: Für Menschen in Städten haben die drastisch gestiegenen Mieten eine existenzbedrohende Bedeutung gewonnen. Umgekehrt verfugt, wer viele Immobilien besitzt, über die Macht, Menschen ohne Wohneigentum zu vertreiben. Das führt dazu, dass die Lebensrealitäten sozialer Gruppen immer homogener werden. Lehrer oder Unternehmensberaterinnen haben heute fast keinen direkten Kontakt mehr zu Bauarbeiterinnen oder Altenpflegern.

Bei allen feinen Unterschieden gibt es also nach wie vor den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, mit sich einander unversöhnlich gegenüberstehenden Interessen. Wer Eigentum an Kapital hat, macht nur deshalb Profit, weil er oder sie andere Menschen dazu zwingen kann, für sich zu arbeiten. Das führt immer wieder zu Konflikten mit ungleichen Verhandlungspositionen. Weil dieser Zustand historisch gewachsen und strukturell ist, sind Klassenunterschiede auch Herrschaftsverhältnisse, die sich reproduzieren.

Neun Prozent aller Erwerbstätigen leben unterhalb der Armutsgrenze, weil Deutschland einen der größten Niedriglohnsektoren Europas hat. Wohlhabende Frauen leben acht, wohlhabende Männer sogar zehn Jahre länger als in Armut befindliche Menschen. Dreißig Prozent aller von Armut betroffenen Männer werden nicht alter als fünfundsechzig Jahre. Die Corona-Krise hat diese soziale Ungleichheit noch sichtbarer gemacht und verschärft. Der Kapitalismus ist eine Modernisierungsmaschine, die den absoluten Wohlstand mehrt, aber ihre Guter systematisch ungleich verteilt.

Der Schriftsteller Dietmar Dath veranschaulichte das in seinem Buch Maschinenwinter (2008) so: »Selbstverständlich ist eine Gesellschaft schweinisch, die einerseits fair ihre Spitzensportler Laufschuhe mit eingebauten Dampfungscomputern bereitstellt, andererseits aber alten Frauen mit Glasknochen die Zuzahlung zum sicheren Rollstuhl verweigert und einen Pflegenotstand erträgt, für den sich tollwütige Affenhorden schämen müssten.« Die Literaturwissenschaftlerin bell hooks schrieb in ihrem kürzlich ins Deutsche übersetzten Buch Die Bedeutung von Klasse: »Heutzutage ist es angesagt, über Themen wie Race und Gender zu sprechen; das weniger coole Thema ist Klasse. Es ist das Thema, bei dem wir alle verkrampfen, nervös werden, nicht sicher sind, wo wir stehen.« Und es stimmt: Bei der Forderung nach Diversität in Bildungssystem, in der Politik, in der Arbeitswelt geht es oh um die ethnische und kulturelle Herkunft, um das Geschlecht. Die soziale Herkunft wird meist vergessen, sie ist ein blinder Fleck. Deutschland gibt sich gerne als ein Land, in dem Klasse keine Rolle spielt. Aber wie viele Leute aus armem und/ oder nicht akademischem Elternhaus sitzen denn in den Macht- und Entscheidungspositionen der Dax-Konzerne, des Kulturbetriebs, der politischen Parteien?

Die Kategorien »Race«, »Gender« und »Class« sind eng miteinander verbunden. Die Philosophin Frigga Haug spricht vom »Herrschaftsknoten«. Den erklärt sie anhand eines Schuhs mit Schnursenkeln. Zwei Strange sind hier so zusammengebunden, dass sie sich möglichst nicht von selbst lösen können. Um das abzusichern, macht man einen Doppelknoten. Je mehr Stränge, umso schwerer ist der Knoten lösbar. Wer nur an einem Strang zieht und die anderen ignoriert, lauft Gefahr, den Knoten fester und die Losung noch schwerer zu machen. Darum kommen im vorliegenden Buch vierzehn Menschen mit unterschiedlichen Blickwinkeln, Hintergründen und Erzählweisen zu Wort. Die hier versammelten Stimmen sind so vielfaltig wie unsere Gesellschaft.

Der von uns gewählte Titel Klasse und Kampf verspricht auf den ersten Blick eine Programmschrift, ein Manifest, eine Anklage. All das ist diese Anthologie nicht, und all das ist sie irgendwie doch. Die Beiträge finden für unsere widersprüchlichen Leben im Kapitalismus literarische Mittel. Sie setzen sich mit den Klassenstrukturen auseinander, verorten sich in ihnen, wollen sie überwinden — doch sie machen sich nicht zum Sprachrohr einer Gruppe, einer politischen Partei oder Strömung. Wir wollen durch persönliche Perspektiven die Missstände greifbar machen und damit eine Einladung zur Empathie aussprechen. Wir möchten aber auch Probleme benennen. Deutliche Worte und Beispiele finden. All das tun die Texte in diesem Band.

Wie entwickelt sich ein Kind, dem durch das Bildungssystem suggeriert wird, dass aus ihm eh nichts werde, während einem anderen durch seine Startposition ein Vorsprung in den Schoß fällt: durch Geld, Selbstvertrauen, die »richtigen« Sprachcodes, den passenden Habitus oder Beziehungen und Kontakte? Warum muss eine alleinerziehende Mutter einer mies bezahlten Lohnarbeit nachgehen und sich zugleich rund um die Uhr um kranke Angehörige kümmern? Welche Rolle spielen ethnische Zuschreibungen, Hautfarbe und Geschlecht bei der Verteilung von Privilegien in einer, weil und männlich dominierten Klassengesellschaft? Was bedeutet es für ein Gemeinwesen, wenn eine Elite ihren Lebensentwurf auf Kosmopolitismus und permanenter Mobilität aufbauen kann, derweil die meisten nicht vom Fleck kommen?

In der Geschichte ist die soziale Ungleichheit oft stark gestiegen, ohne dass es nennenswerte Proteste gab. Warum empfinden so viele Menschen die Ungleichheit als gerecht oder zumindest unveränderbar? Eine große Rolle dürfte das Versprechen spielen, wonach jeder es schaffen kann, aus eigener Kraft zu einem Gewinner zu werden. Dieses Versprechen lasst sich heute immer weniger einlösen, wie etwa die Soziologen Oliver Nachtwey (Die Abstiegsgesellschaft) und Andreas Reckwitz (Die Gesellschaft der Singularitäten) belegt haben. Gibt es also gar keinen Anlass zur Hoffnung auf schnelle und grundlegende Veränderungen? Nun, die Revolution steht nicht gerade bevor.

Vielleicht jedoch lässt sich eine bessere Welt ohnehin am besten in kleinen Schritten erreichen, zu denen auch ein Werk wie Klasse und Kampf zählt.

Maria Baiankow & Christian Boron
Berlin im Dezember 2020

31.03.2021, 19:28

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