Packender Reality-Thriller

Leseprobe Burgis folgt in seinem Buch vier Spuren, die ein globales Netz der Korruption aufdecken: den Unruhestifter aus England, den ehemaligen sowjetischen Milliardär, den Anwalt mit einem mysteriösen Klienten und den von der CIA geschützten Gauner
In „Kleptopia“ verfolgt der Journalist Tom Burgis den Weg des schmutzigen Geldes.
In „Kleptopia“ verfolgt der Journalist Tom Burgis den Weg des schmutzigen Geldes.

Foto: Spencer Platt/Getty Images

Der Dieb

Kensington, Januar 2008

Moralische Integrität, sicherlich, aber es war auch ein gewisser Schalk, ein Charakterzug, der sich an den Fältchen in seinen Augenwinkeln ablesen ließ, der Nigel Wilkins dazu brachte, die Geheimnisse einer Schweizer Bank zu stehlen. Es geschah in dem Jahr, das alles veränderte, 2008, dem Ende der alten Zeit. Nigel hatte vierzig Jahre lang in der Bankenbranche gearbeitet, obwohl er nie ein echter Banker gewesen war. Jedenfalls nicht auf die Art, wie die Banker selbst dieses Wort verwendeten, und auch nicht so, wie andere diesen Ausdruck in letzter Zeit benutzten. Zum einen war er dazu viel zu zurückhaltend. Er konnte einem durchaus einen granitharten Blick durch seine Brille zuwerfen. Aber dahinter lag nicht nur die unterdrückte Arroganz eines Mannes, den alle, die ihn kannten, für den Klügsten hielten, dem sie je begegnet waren, sondern auch eine unerträgliche Hilflosigkeit. Keiner der vornehmen »Herren des Universums« hätte sich auch nur im Traum in einem von Nigels Rüschenhemden blicken lassen. Und sie hätten sich auch wohl kaum so mutig ihrer Kahlköpfigkeit gestellt wie Nigel, der die letzte seiner ehemals vollen Locken in eine kleine Pappschachtel mit der Aufschrift »Nigels Haare« gelegt hatte, die für alle sichtbar auf einem Regal in seiner Wohnung stand. Außerdem hatten sie vermutlich wesentlich weniger als Nigel über Geld nachgedacht – darüber nachgedacht, statt aus Geld immer mehr Geld zu machen. Als Jugendlicher war Nigel begeistert vom Premierminister der Labour Party Harold Wilson, der das Establishment mit seinem gedehnten Yorkshire-Dialekt und seiner geradlinigen Art, die verschiedenen Bedeutungen von »Geld« zu erklären, in Schrecken versetzt hatte: Wer hatte es, wie waren die, die es hatten, dazu gekommen, und warum hatten die Vielen, die keines hatten, vielleicht einen berechtigten Anspruch auf einen größeren Anteil daran? So, wie andere Kinder mit einem Chemiebaukasten experimentieren oder die grausameren unter ihnen mit dem Vergrößerungsglas Schnecken sezieren, hatte Nigel begonnen, sein Taschengeld zu investieren. Er mochte mathematische Ideen mit unmittelbar praktischer Bedeutung. Er spielte mit dem Gedanken, später vielleicht einmal Ingenieur zu werden, aber vom Temperament her neigte er eher zu Disziplinen, die mehr Raum für Diskussion und Debatte ließen. Am Ende entschied er sich für die Ökonomie, die Kunst, Geschichten über das Geld zu erzählen.

Nigel war auf seine Weise freier als viele andere, denn während er im Lauf seines Lebens viel Geld verdient hatte, aber am Ende kaum noch welches besaß, hatte Geld keine Macht über ihn. Dinge, von denen andere glaubten, sie unbedingt kaufen zu müssen, wie Mobiltelefone oder Fernseher, waren für ihn nur Ballast. Da waren ihm sein altes Radio und seine vorsintflutliche dreiteilige Couchgarnitur, die er von einem Freund geschenkt bekommen hatte, wesentlich lieber. Sein Vater, Arthur Wilkins, hatte während des Krieges in einer langweiligen Stadt westlich von London namens Basingstoke in einer Panzerfabrik gearbeitet und wurde später methodistischer Laienprediger. Sein zweites und letztes Kind, Nigel, wurde genau in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts am 19. März 1950 geboren. Es war eine Generation, für die Sparsamkeit, nachdem sie nun nicht mehr unbedingt notwendig war, entweder eine Buße für die großen Opfer anderer darstellte oder ein Fluch war, dessen man sich durch materiellen Überfluss entledigte. Der größte Luxus, den Nigel sich erlaubte, war, dass er bei längeren Zugreisen erster Klasse fuhr – vor allem, um dann in den Genuss der im Preis inbegriffenen Rühreier zu kommen. Später, nachdem er einem erbaulichen Vortrag zugehört hatte, genehmigte er sich dann auf der Rückfahrt vielleicht noch ein Stück Kuchen. Wenn in seiner Wohnung im vierten Stock eines Hauses in Kensington, die er mit einem flotten – oder, wenn er Schmerzen in der Brust hatte, etwas weniger flotten – Spaziergang vom Buckingham Palace oder den Königlichen Parks aus erreichen konnte, etwas kaputt ging, reparierte er es lieber, statt sich etwas Neues zu kaufen. Auf dem Kaminsims stand ein Foto, auf dem er während einer seiner seltenen Urlaubsreisen an Bord einer Kanalfähre zu sehen war. Seine Regale waren voller Bücher über Wirtschaft, Finanzen und internationales Recht, mit Titeln wie Behind the Corporate Veil, Infectious Greed und What Is Sarbanes-Oxley?. Während er diese für seine Arbeit benötigte, suchte er Trost und Muße in den Romanen von Thomas Hardy. Dies tat er so häufig, dass die Titel auf den zerknickten Buchrücken kaum noch zu entziffern waren. Sein Lieblingsbuch war Jude Fawley, der Unbekannte. Vielleicht erkannte er sich selbst in Jude wieder. Vielleicht konnte er die Bedeutung all der dicken Bücher über die Mechanismen des Reichtums spüren, wenn er in Jude die Passage über die drei Kinder wieder las. Dort findet man sie erhängt, neben einem Zettel, auf dem steht: »Getan weil wir zu vile sint.« Daneben besaß Nigel auch ein einziges Selbsthilfebuch: Wie man mit Depressionen fertig wird. Es sah aus, als sei es nie gelesen worden.

Nigel war ein stilles Kind gewesen. Später entwickelte er ein Misstrauen gegenüber Autoritäten, das an Verachtung grenzen konnte. Für sein Studium hatte er sich den idealen Ort ausgesucht, um diesen widerborstigen Charakterzug auszuleben, nämlich Manchester, eine Stadt, deren Bewohner den Ungehorsam zu einer fröhlichen Kunst entwickelt hatten und bereit waren, dafür zu leiden. Sie sprachen vom Massaker von Peterloo, als wären sie persönlich dabei gewesen, und waren stolz auf die Arbeiter, die Not und Hunger als Preis für ihren Widerstand gegen die Sklavenhalter der Konföderation, die die Baumwolle für ihre Fabriken lieferten, willig akzeptierten. In Manchester, dem Geburtsort der Labour Party, hatte die Industrielle Revolution – mit all ihren Konsequenzen – ihren Anfang genommen. Mit Nigel hatte die Labour-Ortsgruppe in Kensington einen unverwüstlichen Kandidaten gefunden, auch wenn ihre Versuche, in diesem Bezirk mit dem höchsten Durchschnittseinkommen im ganzen Land die Mehrheit im Gemeinderat zu gewinnen, erfolglos blieben. Seine Parteigenossen bemerkten, wie effektiv er es verstand, die Mächtigen zu triezen, und gaben ihm den Spitznamen »Exocet« – eine Kampfrakete, die sehr schwer auszumachen ist, bevor sie einschlägt.

Gelegentlich witzelte Nigel (vielleicht mögen seine Gegenüber es ihm zum Teil geglaubt haben), er könne nicht erklären, worin seine Arbeit bestünde, weil das ein Geheimnis sei. Er hatte neben Ökonomie auch Kriminologie studiert, in seinem Arbeitsleben aber größtenteils nichts Geheimnisvolleres betrieben als angewandte Wirtschaftsforschung. Er wurde von Bankern dafür bezahlt, dass er ihnen darlegte, wie die nächsten Kapitel in der Geschichte des Geldes aussehen könnten, und er malte dann die Szenarien aus, indem er sich in die Denkweise des klassischen Akteurs der ökonomischen Theorie versetzte, der sowohl rational als auch gesetzestreu war. Später hatte er einen Posten der Vollstreckungsabteilung der Finanzaufsichtsbehörde FSA angetreten, die mit der Überwachung des britischen Bankwesens betraut ist. Dort glaubte er zunächst, endlich das ihm entsprechende berufliche Umfeld gefunden zu haben.

Nigel war ein Pedant von der Sorte, die sich nie mit einfachen Lösungen zufriedengibt. Bei der FSA war er rasch verzweifelt, weil in ihm der Verdacht aufkam, dass sie in Wirklichkeit gar nicht den Willen hatte, Wirtschaftsverbrechen zu verfolgen.

Zum Glück ergab sich gerade in diesem Moment eine weitere Gelegenheit, die seinen Schalk erneut wecken sollte, und bei Nigel ein unterdrücktes, schmallippiges Lächeln auslöste. Charlotte Martin dagegen war besorgt. Sie kannte Nigel besser als jeder andere. Sie waren sich während einer der Feldzüge begegnet, die Nigel gegen jene führte, die nach seinem Dafürhalten ihre Macht missbrauchten. In diesem Fall waren das die Londoner Wohnungsbesitzer und Vermieter. Nach Nigels Meinung nutzten sie ihre feudalen Rechte zur Erpressung der Mieter, zu denen auch Charlotte gehörte. Er studierte das Mietrecht, bis er es inund auswendig kannte, und bombardierte die Eigentümer mit ihren eigenen Paragraphen und Sonderbestimmungen, die er ihnen in einem Beschwerdeschreiben nach dem anderen unter die Nase rieb. Charlotte war groß und schlank, mit einer Stimme, aus der sich schließen ließ, dass sie aus Essex kam. Sie hatte ein Lächeln, das sich erst ganz langsam andeutete, bis es schließlich ihr gesamtes Gesicht erleuchtete. Eine Zeit lang waren sie ein Paar und danach platonische Seelengefährten. Doch selbst sie wurde aus Nigels Verhalten oft nicht schlau und hatte das Gefühl, ständig damit beschäftigt zu sein, ihn zu entziffern. Aber als er ihr berichtete, er habe im Londoner Büro einer Schweizer Bank einen Posten als so genannter »Kontrollbeamter« angenommen, war sie sich sicher, dass das für ihn nichts Gutes bedeutete. Sie warnte ihn, dass die Schweizer Bankiers »seine Knöpfe drücken« würden, aber er wollte nichts davon hören. Das sei seine Chance ins Innere vorzudringen: Er würde ein Wachhund im Schafspelz sein. Solche Kontrollbeamte gab es bereits seit längerem, aber nach einer Reihe von Konzernskandalen – Enron, WorldCom und andere mehr – waren sie nun, sozusagen als das ausgewiesene Gewissen der Großkonzerne, überall zu finden. In der Praxis bestand die Tätigkeit der Kontrollbeamten in den Banken meist in dem Versuch, ihre Arbeitgeber in ein Mäntelchen der Rechtschaffenheit zu hüllen, ohne die Geldgeschäfte der Banker über Gebühr zu beeinträchtigen. Nigel selbst verstand seine zukünftige Aufgabe natürlich ganz anders: »Ich kann sie zwingen, sich an die Regeln zu halten.« Sein Eifer trug nicht gerade dazu bei, Charlotte zu beruhigen, und sie bat ihn nochmals, nicht zur BSI zu gehen. Aber er tat es dennoch und eine Weile lang schien auch alles gutzugehen.

Das war vor zwei Jahren gewesen, noch bevor sich alles veränderte. Aber Nigel sah voraus, was jetzt kommen würde. Die Finanzwirtschaft – die aus Geld noch mehr Geld machte – stand zumindest dem Augenschein nach vor dem Zusammenbruch. Am 22. Januar 2008 senkte die US Federal Reserve Bank in einer Notaktion die Zinsraten. In Nigels Wohnung lagen auf jeder freien Fläche Artikel aus der Wirtschaftspresse oder detaillierte Pläne zur Beschneidung der Macht der Finanzwelt. Er hatte einen seiner alten Sessel mit der Lehne zum großen Fenster aufgestellt, sodass das klare Licht vor Sonnenuntergang über seine Schultern fiel, wenn er sich hinsetzte, sich eine Flasche Bier – meist Old Speckled Hen – gönnte und mit seiner Abendlektüre begann. Natürlich verstand er, wie hypothekenbesicherte Wertpapiere und Kreditausfalltausch funktionierten. Ihm war klar, dass die Vielen den Wenigen geopfert werden würden. Er wusste, dass man sich nach der Panik auf die Suche nach der Vergangenheit machen würde, um die Konturen der Geschichte auszumachen, die sich aus den Trümmern der Finanzwirtschaft erschließen ließ. So viel hatten etliche Leute, von denen einige beinahe so klug waren wie Nigel, bereits begriffen. Aber Anfang Jahres 2008 wurde Nigel klar, dass all diese Leute mit ihrer Aufarbeitung der Vergangenheit am falschen Ende begonnen hatten.

Nigels Vater hatte immer gesagt, dass alle Menschen am Ende das bekämen, was sie verdienten. Sein Sohn war der Meinung, dass man diesem Prinzip ein wenig nachhelfen musste. In einem zerknitterten alten Notizbuch, auf dessen Umschlag »Laptop der 70er« stand, beschrieb er, wie sich bei ihm im Lauf seiner Jahre bei der BSI immer mehr ein Verdacht erhärtet hatte. Er sei, so schrieb er, bei seiner Arbeit über den weltweit größten Betrug gestolpert. Und es gab noch etwas anderes, noch Wichtigeres, das Nigel schwach aus weiter Ferne und mit Schaudern vernahm und das mit dem, was mit den Finanzströmen passierte, irgendwie verbunden war: die Schreie der Gefolterten, das Schweigen der Toten.

[...]

07.10.2021, 08:47

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