Realistische Erzählung

Leseprobe Sharky, Kay, und Fabian – Student, Influencer, Paketbote: Drei Lebensrealitäten. Als eine schicksalhafte Beziehung ihren Lauf nimmt und Sharky und seine Weggefährten mit sich zieht, müssen sie erkennen, wie gefährlich die moderne Kommunikation ist...
Realistische Erzählung

Foto: Michael Ciaglo/Getty Images

Prolog

Ein kurzer Knall erfüllte die Häuserschlucht der engen Straße. Die Polizeibeamten lauschten angestrengt in die Dunkelheit. Die schlecht einzusehende Straße führte vom Altonaer Bahnhof in die verwinkelten Ecken des kultigen, ehemals zu Dänemark gehörenden Hamburger Stadtteils. Es war wieder still und niemand im Dunkeln zu erkennen.
Die gemischte Streife, bestehend aus einer jungen Frau und zwei nur unwesentlich älteren Männern, war wie so oft an den vergangenen Wochenenden zu Fuß unterwegs. Rund um den Bahnhof war es in den langen Wochenendnächten seit längerem unruhig. Das feierwütige Volk traf sich hier in Massen, um mit der
S-Bahn in Richtung Reeperbahn aufzubrechen oder um zu Fuß in die Bars der umliegenden Gassen des Viertels zu strömen. Je später es wurde, desto stärker stiegen die Alkoholpegel. Die Polizeipräsenz half dabei, die entstehenden Aggressionen einigermaßen im Zaum zu halten. Heute war es bisher ruhig geblieben und jetzt, kurz vor 1 Uhr morgens, war kaum noch jemand auf den Straßen unterwegs.

Es knallte wieder, diesmal etwas weiter weg. Fragend wechselte einer der Beamten Blicke mit seiner Kollegin. „Das kam aus dieser Richtung!“, sagte die Beamtin bestimmt und deutete auf die Erzberger Straße, die rechts von ihnen abging. Einer der Kollegen leuchtete mit einer Taschenlampe in die genannte Richtung, konnte aber weiterhin niemanden ausmachen. Der Lichtkegel streifte eine Laterne, kehrte zu ihr zurück und blieb dort hängen: Auf dem dunkelgrauen Metallmast war ein Aufkleber des FC St. Pauli durch einen schwarzen Sticker mit weißen Runen überklebt worden. Er ließ das Wort Meute erkennen, darüber eine Art Axt mit einem zu langen Griff.
„Schon wieder eines dieser komischen Symbole. Ich dachte die Zivilfahndung wollte sich um diesen Vandalismus endlich kümmern?“, brummte der Beamte und schüttelte den Kopf: „Der komplette Bahnhof ist damit bereits verunstaltet.“
Alle drei gingen weiter in die Straße hinein. Der Lichtkegel wanderte mit – und erfasste auf dem Kopfsteinpflaster einen zersplitterten Seitenspiegel, der ursprünglich zu einem am Straßenrand parkenden Mercedes gehörte. Die Beamten sahen sich an und löschten das Licht. Leise setzten sie ihren Weg fort. Sie lauschten gespannt in die Dunkelheit des Nachtlebens.

Nach kurzer Zeit hörten sie leise ein entferntes Pfeifen. Dann wieder einen Knall begleitet vom zersplitternden Glas. Die Polizisten konnten etwa zwanzig Meter von sich entfernt zwei Schatten erkennen. Von einem ging eine fröhlich gepfiffene Melodie aus, der andere Schatten nahm Anlauf und sprang mit gestrecktem Bein einen parkenden Sportwagen an. Der Außenspiegel brach knallend ab und landete mit einem klirrenden Geräusch auf dem Asphalt. Wie auf Kommando rannten die beiden männlichen Beamten los, während ihre Kollegin via Funk Kontakt mit der Zentrale aufnahm.

Der pfeifende Schatten drehte sich um und verstummte abrupt, als er die Beamten bemerkte:
„Die Bullen, Amerigo!“, rief er dem anderen zu und flüchtete selbst in die Dunkelheit der nächsten Seitenstraße. Der zweite Schatten war nach seinem Kung-Fu-Tritt unglücklich gelandet und zu Fall gekommen. Die beiden Polizisten erreichten ihn und hatten keine Mühe, den kräftigen Mann am Boden zu fixieren.

„Hier Peter 16-Zwo, haben eine Festnahme, Verdacht auf Vandalismus, Erzberger Straße. Brauchen Verstärkung“, sprach die Polizistin in ihr Funkgerät, während sie sich dem fixierten Mann und ihren Kollegen näherte.
„PK 21 hat verstanden“, antwortete es aus dem Lautsprecher, der auf ihrer linken Schulter fixiert war.

„So, der Spaß ist vorbei.“ Die Beamten halfen dem muskulösen Mann auf die Beine und bedeuteten ihm, seine erhobenen Hände an das nächste Auto zu pressen. Dann durchsuchten sie ihn.
„Scheint unbewaffnet zu sein“, sagte einer der Uniformierten und stutzte. „Aber was ist das?“
Er zog etwas aus der Hosentasche des Mannes. Es handelte sich um einen dicken Stapel schwarzer Sticker, die mehrere weiße Runen und weitere Symbole zeigten.
„Scheint als wenn wir jemanden gefunden haben, der endlich für die Sauerei finanziell belangt werden kann!“, freute er sich. Er drehte den Mann zu sich um.
„Haben Sie einen Ausweis bei sich?“
Der Verhaftete sah ihn verständnislos in die Augen und blieb stumm.
„Verstehen Sie mich? Verstehen Sie unsere Sprache?“
Er blieb weiter stumm. Der Beamte registrierte einen deutlichen Alkoholgeruch.
„Haben Sie getrunken oder andere Drogen zu sich genommen?“, fragte er.

Der Mann fing lediglich an zu lachen.
„Alles klar, dann geht es erstmal zum Revier. Wir müssen Ihre Personalien feststellen.“
Der Beamte löste die Handschellen von seinem Gürtel, um sie dem offenbar betrunkenen Mann anzulegen.

„Hier PK 21 – Peter 16-Zwo, bitte kommen!“, ertönte eine tiefere männliche Stimme als vorhin aus dem Funkgerät der Beamtin, die sich die Szenerie mit einer Hand am Waffenholster anschaute.
„Peter 16-Zwo hört“, antwortete sie vernehmbar ohne die gefasste Person aus den Augen zu lassen.
„Entfernen Sie sich bitte aus der Erzberger Straße.“
Die drei Beamten blickten sich verdutzt an.
„Wir nehmen gerade eine verdächtige Person fest und warten auf Verstärkung“, antwortete die Polizistin irritiert.
„Entfernen Sie sich unverzüglich! Sie gefährden eine verdeckte Ermittlung …“, ertönte es bestimmt via Funk. Das Lachen des Verhafteten wurde lauter.
„Dies ist die letzte Aufforderung Peter 16-Zwo, sonst wird das Ganze ein Nachspiel für Sie haben. Setzen Sie Ihre Tour unverzüglich fort.“

Die drei jungen Beamten wussten einen kurzen Moment nicht, wie sie reagieren sollten. Dann ließen die beiden Polizisten von dem gefassten Mann ab, den sie doch ganz offensichtlich auf frischer Tat ertappt hatten. Der lachte nicht mehr, sondern ging auf den ihm am nächsten stehenden Beamten zu und nahm ihm die schwarz-weißen Aufkleber aus den Händen:
„Schade, Kollegen. Beim nächsten Mal vielleicht.“
Mit einem „Buona sera!“ zum Abschied drehte der Mann ab und verschwand in der nächsten Gasse.

Die drei Streifenpolizisten blieben ratlos zurück.

1

Sharky schaute ungeduldig auf die große Uhr des Abholbereichs. Seine Mutter hätte nunmehr vor neunzig Minuten am Hamburger Flughafen landen sollen. Die Anzeigetafel verriet ihm immerhin inzwischen die erfolgreiche Landung der verspäteten Lufthansa-Maschine aus Kapstadt. Es konnte somit nicht mehr allzu lange dauern, bis sie aus den automatischen Schiebetüren treten würde.

Die Wiedersehensfreude würde sich in Grenzen halten. Sharkys Familie war seit jeher sehr reserviert zueinander gewesen. Umarmungen oder gar Küsse galten als absolute Ausnahme. Die Distanziertheit zwischen ihm und seiner Mutter hatte sich seit dem Tod des Vaters noch weiter verstärkt. Immerhin behielt Sharky die Familientradition bei und holte seine Mutter vom Flughafen ab. Er selbst hatte zwar kein Auto, nutzte aber ihren Wagen dafür. Sie freute sich trotz ihres ausschweifenden Lebensstils stets diebisch, Fahrtkosten für ein Taxi zu sparen.

Sharky tigerte ungeduldig durch die Empfangshalle. Er wusste gar nicht, warum er heute so unruhig war. Es war ein stinknormaler Sonntagnachmittag im Oktober und er würde nichts Besonderes verpassen. Sicher, vor dem Start des neuen Semesters fand gerade heute Abend eine Studentenfeier statt. Warum der ASTA sie ausgerechnet sonntags ausrichtete, konnten wohl tatsächlich nur die Vorsitzenden des Ausschusses beantworten. Vielleicht, weil sie stolz auf die studentischen Freiheiten waren. Vielleicht auch, weil für sie jeder Tag dem anderen glich. Sharky hatte sowieso keine Lust auf die Feier. Dort würde er sicherlich seine Ex-Freundin Claudia wiedersehen, die im Gegensatz zu ihm selbst bereits jetzt in ihr Abschlusssemester startete. Er hatte wahrlich keine Lust, sich wieder als Schluderer oder Langzeitstudent bezeichnen zu lassen. Immerhin war er gut genug gewesen, um knapp zwei Jahre den spaßigen Unterhalter für Claudia zu spielen – er war nur eine Episode ihres zu Ende gehenden Studienlebens. In Claudias restliches Leben passte Sharky nicht mehr hinein. Wieso mussten Menschen einander immer vergleichen und mit Leistungen überbieten, wo doch auch andere Eigenschaften liebenswert waren?

Gerade als er sich diese Frage selbst stellte, öffneten sich die automatischen Schiebetüren und eine Gruppe Reisender trat mit surrenden Rollkoffern heraus. Sharky blickte erwartungsfroh zu der Gruppe, erkannte aber schnell das Fehlen seiner Mutter. Dafür kam jemand anderes auf ihn zu, der ihm bekannt vorkam. Er konnte die Person aber partout nicht einordnen, bis der junge Mann direkt an ihm vorbeischritt, stehenblieb und verwundert fragte:
„Sharky? Du bist doch Sharky, oder?“
„Ähm, ja. Sicher und Du – Du kommst mir bekannt vor?“, stammelte Sharky.
„Kay. Erkennst Du mich nicht? Wir haben zusammen Abi gemacht?“
Sharky musterte seinen ehemaligen Schulkameraden. Kay hatte sich in der Tat seit ihrem Abitur verändert. Sharky erinnerte sich an ihn als pickeligen Moppel, der Opfer von Hänseleien gewesen war und sogar von deutlich jüngeren Jahrgängen regelmäßig geärgert wurde. Nun hatte sich der Moppel in einen gutaussehenden, durchtrainierten Typen entwickelt. Er strahlte Selbstbewusstsein und Offenheit aus, die Sharky regelrecht überrumpelte.
„Kay? Natürlich. Ich habe Dich kaum erkannt. Du bist so braun gebrannt“, log Sharky immer noch irritiert. „Wo kommst Du denn her, dass Du nochmal so viel Sonne tanken konntest?“
„Aus Kroatien. Leider hatte mein Flug Verspätung, eigentlich wäre ich längst zu Hause in meinem Bett. Ich muss morgen früh raus. Du musst wissen, ich war beruflich in Kroatien.“
Da war sie wieder, die menschliche Eigenart sich mit Leistungen zu profilieren. Sharky fiel nichts Besseres ein, als darauf einzusteigen:
„Tatsächlich. Was hast Du denn dort zu tun gehabt?“, fragte er gekünstelt interessiert.
„Ich habe doch schon früher in der Schule immer gerne geschrieben. Tja, das habe ich beibehalten und nun bin ich mit meinem Blog ein richtiger Influencer geworden“, antwortete Kay voller Stolz.
Sharky hatte sich nie sonderlich in sozialen Netzwerken getummelt und auch keine genauen Vorstellungen, was er mit dem Berufsbild eines Influencers anfangen sollte. Er antwortete dennoch so anerkennend wie möglich:
„Wow, meinen Respekt. Da hast Du Dein Hobby zum Beruf gemacht. Glückwunsch!“
„Danke – das kann man wohl so sehen. Und ich verdiene sogar richtig gut Geld damit …“
Sharky hörte gar nicht mehr richtig zu, ihn ermüdeten solche Smalltalks. Hilfesuchend sah er sich um, wie konnte er der Situation nur schnell entfliehen?

„Sven! Hier hinten. Komm doch mal! Hilf mir mit den Koffern!“ Seine Mutter stand an der automatischen Ausgangstür und winkte ihm hektisch zu. Sie war bepackt mit allerlei Umhängetaschen und zog einen riesigen Gucci-Rollkoffer hinter sich her. Sharky hätte nicht gedacht, wie schön Wiedersehensfreude doch sein konnte. Dankbar verabschiedete er sich von seinem ehemaligen Mitschüler: „Sorry, Kay. Meine Mutter wartet. Es war schön Dich mal wieder zu sehen. Schade, dass es so kurz war.“
„Ja, das fand ich auch“, bedauerte Kay.

Sharky wandte sich bereits ab, als Kay ihm hinterherrief:
„Ich heiße jetzt Kosmo! Du findest mich bei Instagram!“
Sharky überhörte den nett gemeinten Hinweis und eilte zu seiner Mutter.
„Hallo Mutti!“ Keine Umarmung. Keine Küsse. Alles wie immer.
„Hier mein Junge. Kannst Du die Taschen nehmen? Ich zieh den Koffer. Ich habe Dir viel zu erzählen. Wo stehst Du denn? Ist es weit? Der Flug war furchtbar. Selbst in der Business Class ist es reine Folter … hab ich schon erwähnt wie froh ich bin, die Taxi-Kosten zu sparen?“ Seine Mutter plapperte wie ein Wasserfall.
„Glaub ich Dir, Mutti.“ Er nahm ihr die Taschen ab. „Ich werde übermorgen ja bei Dir zum Geburtstag sein. Da kannst Du mir alles in Ruhe erzählen. Lass uns jetzt schauen wie wir hier schnell wegkommen.“

Sharky eilte seiner Mutter zum Parkhaus voraus. Er würde froh sein, wenn er sie zu Hause abgeliefert hatte. Bis dahin musste er noch einen ausgiebigen Reise-Monolog seiner Mutter über sich ergehen lassen. Er spürte instinktiv, er würde nachher seiner Stammkneipe, dem Bürgereck, noch einen Besuch abstatten.

2

Kay betrachtete stolz das Foto: Die Sonne strahlte vom blauen Himmel. In den Gläsern seiner Ray-Ban Sonnenbrille spiegelte sich das Türkis des Pools. Sein Lächeln präsentierte perfekt angeordnete Zahnreihen, die durch den braunen Teint seiner Haut noch weißer erschienen als sie ohnehin schon waren. Auch die Grübchen und dunkelblonden Haare kamen gut zur Geltung. Kay musste keinen Fotofilter benutzen und auch seine vermeintlichen Freunde lobten das Bild und beneideten ihn reihenweise um die Vier-Sterne-Location direkt an der Adriaküste, die sich am blauen Horizont abzeichnete …

„Nächster Halt – Hauptbahnhof Süd!“

Kay blickte von seinem vorgestern Abend geposteten Selfie auf und in zwei missmutige Gesichter, die sich bereit machten zum Ausstieg aus der vollbesetzten Hamburger U-Bahn.

Es war jetzt kurz nach acht Uhr morgens, die Rush Hour an diesem Oktobermontag also in vollem Gange. Auch Kay steckte nun sein Smartphone ein und stand mit einem Seufzen auf. Die mehrstündige Warterei gestern am Flughafen Split und seine verspätete Ankunft führte bei ihm zu einem Schlafdefizit, das er heute Morgen deutlich spürte. Aber er musste früh raus. Seine Agentur hatte wirklich ganze Arbeit verrichtet und ihm einen lukrativen Job beschert.

„Ausstieg in Fahrtrichtung rechts!“

Der Zug hielt an und Kay drängte zur nächstgelegenen Waggontür. Sie sprang bereits automatisch auf und entließ erste Fahrgäste auf den vollen Bahnsteig. Er drängelte sich im schmalen Gang an einem fülligen Anzugträger vorbei, wurde dann jedoch von einer Lederjacke mit brauner Haarmähne abgeblockt.
„Entschuldigung“, sagte Kay.
„Entschuldigen Sie bitte …“
Er bemerkte jetzt erst, dass der braune Haarschopf von einem Bose-Kopfhörer eingerahmt war und gedankenverloren auf den Boden blickte. Da konnte er lange um Durchlass bitten.
Er tippte der Lederjacke auf die Schulter. Der Schopf samt Kopfhörer drehte sich zu ihm um. Zwei weibliche braune Augen blickten ihn verständnislos an.
„Hallo, ich müsste bitte vorbei“, sagte Kay nun etwas lauter und winkte dabei mit seiner rechten Hand. Die Frau grinste und wippte ihren Kopf im Rhythmus der Musik auf und ab. Dann winkte sie ihm debil grinsend zurück.
„Hallo, ey – ich muss hier raus!“, rief Kay nun ärgerlich.
Hinter ihm wurden andere Fahrgäste ebenso ungeduldig und drehten schimpfend ab, um den weiter weg gelegenen anderen Ausgang zu erreichen.

„Ey, mach mal jetzt Platz …“, motzte Kay.
Der Haarschopf nahm tatsächlich die Kopfhörer vom rechten Ohr: „Häh?“
„Ich muss mal vorbei, das gibt es doch gar nicht.“
Der Schopf schaute überrascht nach rechts und sah die Haltestelle: „Oh Gott, ich muss hier raus!“, rief er erschrocken.

„Zurückbleiben bitte!“

Piep. Piep. Piep. Die Türen waren dabei automatisch zu schließen, als der braune Schopf sich ruckartig dazwischenwarf und sich somit auf den Bahnsteig retten konnte. Gleich hinter ihm zwängte sich auch Kay noch durch den sich schließenden Türspalt.
Außer Atem pampte er den Kopfhörer-Schopf an:
„Wahnsinn, bist ja eine richtige Blitzmerkerin.“

„Entschuldigung. Ich war in Gedanken. Sowas ist mir lange nicht passiert.“
Ihre Stimme klang nett und die Entschuldigung hörte sich wirklich ernst gemeint an. Kay konnte gar nicht mehr groß böse sein. Zumal die Frau in ihrer Lederjacke, den Kopfhörern und einer passenden Boyfriend Jeans sportlich, attraktiv und jung aussah.

„Ja, schon gut – wir sind ja beide nochmal rausgekommen.“
Er zeigte ihr sein Lächeln. Sie stockte.
„Kennen wir uns?“, fragte sie überrascht.
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Doch, doch – dieses Grinsen kenne ich. Du kommst von hier, oder?“
„Ja, ich bin Hamburger – aber viel unterwegs. Du verwechselst mich wahrscheinlich.“
„Warte mal …“ Sie griff in ihre Handtasche und wühlte nach ihrem Smartphone.
„Warte, warte – hier habe ich es doch: Da, das bist doch Du!?“

Sie hielt Kay das Display hin und er schaute auf das Bild: Es zeigte ihn in einem engen T-Shirt mit einem grellen Logo auf der Brust. Er lehnte lässig an einem Crossfit-Gerät. Sein durchtrainierter Körper kam gut zur Geltung. Seine Haare waren deutlich länger als aktuell – aber sein unverwechselbares Lächeln verriet ihn.

„Wow! Das Bild habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Muss so vor zwei Jahren gewesen sein. Für die Website eines Kumpels. Er betreibt einen Sportklub. Und Du bist da wohl Mitglied, wie?“
„Na ja, mal mehr mal weniger. Sagen wir: Ich spende da monatlich einen Betrag, um mein Gewissen zu beruhigen“, erwiderte sie lachend.
„Ich bin halt nicht die disziplinierte Sportlerin. Und eben auch keine Blitzmerkerin – in allen Belangen.“
Jetzt lachten beide.

„Ich muss weiter – schönen Tag noch“, sagte Kay und drehte sich in Richtung Treppenaufgang.
„Na, Du musst mir jetzt wenigstens verraten wie Du heißt – wo ich Dich schon jahrelang in meinem Instagram-Account mit mir rumschleppe?“
„Ich bin Kosmo“, erwiderte Kay im Umdrehen.
„Ich heiße Bea!“, rief sie ihm hinterher.
Kay reagierte nicht mehr, sondern eilte endlich die Treppe hinauf. Er musste sich beeilen, um rechtzeitig in der Agentur zu sein.

3

Die Türklingel läutete. Einmal. Zweimal. Dreimal.

Sharky wälzte sich auf seiner Matratze, drehte sich schließlich auf den Rücken. Sein Kopf schmerzte. Es war der dumpfe Schmerz, eindeutig zurückzuführen auf die letzte Runde Jägermeister. Er war gestern noch ins Bürgereck gegangen, nachdem er seine Mutter heil abgeliefert hatte. Wollte er nicht trotzdem gestern pünktlich zum Tatort zu Hause sein? Wieso hatte das denn wieder nicht geklappt? Ach ja - langsam kam er zu sich. Maler-Jens und Media-Marko waren auch noch mit in seiner Stammkneipe im Viertel.
Immer wenn seine zwei Freunde dabei waren, konnte er den Absprung nicht finden. Zumal das gestrige Fußballspiel einiges an Diskussionen hervorrief, die letztlich in einer unaufschiebbaren Generalkritik an der FIFA und in der Infragestellung des gesamten Gesellschaftssystems mündeten. Da spielte es dann auch keine Rolle, dass sowohl Jens in seinem Malerbetrieb als auch Marko in seiner Mediaagentur pünktlich sein mussten. Den Zweien konnte es unmöglich besser gehen als ihm. Sharky brachte trotzdem kein Mitgefühl auf. Im Gegenteil, er machte die beiden für seinen eigenen Brummschädel verantwortlich.

Es klopfte nun an seiner Tür.
„Ey, Sharky – mach auf. Du bist doch da, oder?“

Er stöhnte und schaute auf seinen Wecker, der direkt neben seiner Matratze stand. Es war 8:52 Uhr.
Erneut ertönte ein Klopfen, nun mit Nachdruck.
„Sven! S-V-E-N!“
Wie er es hasste, wenn man ihm mit seinem richtigen Vornamen ansprach. Das machten nur seine Uni-Dozenten oder seine Mutter. Selbst die meisten Lehrer nannten ihn früher in der Schule Sharky. Eigentlich hieß er Sven Schark. Scharky wurde er ab der Grundschule gerufen, da es in seiner Stufe drei weitere Svens gab. Später hatte er sich angewöhnt, diesen Spitznamen ohne C zu buchstabieren. Sharky klang nach Raubtier und somit deutlich cooler.

Es klingelte und klopfte nun gleichzeitig.
„Ich komme ja!“, rief Sharky und hievte seine nackten Beine von der am Boden liegenden Matratze auf das Laminat seiner Einzimmerwohnung und setzte sich langsam Richtung Wohnungstür in Bewegung.
„Einen Moment noch!“
Er blickte kurz in den Spiegel, der im Eingangsbereich neben der Tür hing. Man, sah er fertig aus. Er öffnete.

Im Treppenhaus stand ein untersetzter Muskelprotz mit Stoppelhaarschnitt in DHL-Uniform. Er hatte ein Paket der Größe Mittelklassefernseher in seinen Händen und plapperte froh drauf los:
„Moin Sharky, wusste ich es doch. Ein Student wird doch am Montagvormittag zu Hause sein. Kannst Du ein Paket für Familie Mommsen annehmen? Da macht gerade keiner auf.“

17.02.2021, 16:28

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