Mangelhaftes Schulsystem

Leseprobe Neben der umfassenden Darstellung des Lehreralltages warnt Autor Rainer Löwe vor den politischen und sozialen Folgen eines weiterhin zunehmenden Lehrermangels für die „Bildungsrepublik Deutschland“ und formuliert dringende Forderungen an die Politik
Eine Lehrerin gibt einer Grundschülerin Hilfestellung beim Lösen einer Aufgabe
Eine Lehrerin gibt einer Grundschülerin Hilfestellung beim Lösen einer Aufgabe

Foto: JOAQUIN SARMIENTO/AFP via Getty Images

Hauptteil I.

- Lehrer werden!

Der Imperativteil des Buchtitels steht zunächst einmal für die Aufforderung der Politik an angehende Studenten, sich für ein Lehramtsstudium und damit für den „schönsten Beruf der Welt“ [Gisa Neumann: Beruf und Berufung – 40 Jahre im schönsten Beruf der Welt, 2013; vgl. auch Dietrich von Horn: 111 Gründe, Lehrer zu sein – Eine Hommage an den schönsten Beruf der Welt, Berlin 2013] zu entscheiden; denn hier ist man sich durchaus darüber bewusst, dass sich der gegenwärtige Lehrermangel mittel- bis langfristig für die Bildungsrepublik Deutschland* ohne eine dringend notwendige – aber welche? – Gegensteuerung sowohl zu einem gesellschaftlichen (Stichwort: der politisch mündige Bürger in der Demokratie) wie auch wirtschaftlichen Problem (steigende Qualifikationsanforderungen an die nachfolgenden Generationen) entwickeln wird. Als nunmehr negativer Höhepunkt dieser Entwicklung zeigen sich mittlerweile „Unterrichtsausfälle, als Stillarbeit getarnte Vertretungsstunden, größere Klassen und viel schlimmer: versäumter Lehrstoff. Manchmal so viel, dass Noten auf dem Zeugnis fehlen“ [t-online tagesanbruch vom 10.08.2018] – katastrophale Voraussetzungen für eine auch weiterhin wirtschaftlich prosperierende Bundesrepublik Deutschland.

*) Weit über ein Jahrzehnt ist es jetzt her, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem sog. Qualifizierungsgipfel (dem Bildungsgipfel von Bund und Ländern in Dresden ab dem 22.10.2008) das Ziel formulierte: „Deutschland wird wieder Bildungsrepublik“ [www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/rundbrief-ausbildung/bildungsrepublik-deutschland-7741 84]. Doch von der erfolgreichen Umsetzung dieses ambitionierten Vorhabens der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches noch amtierenden Kanzlerin ist die BRD offensichtlich – auch oder besonders aufgrund des akuten Lehrermangels – noch immer weit entfernt.

[...]

- Lehrer werden?

Mehr und mehr jedoch rückt aufgrund der qualitativ wie insbesondere quantitativ offenbar stetig zunehmenden lehrerberufstypischen Aufgabenbereiche und Belastungsmomente die Interrogativform des Buchtitels bei potentiellen Lehramtskandidaten zweifelnd in den Vordergrund bei der Vorstellung, den Hauptteil ihres (Berufs-)Lebens als allgemeinbildender Lehrer zu verbringen, gleich zunächst an welcher Schulform. Natürlich sind vor allem die unten auch aufgeführten Unterrichtsvorbereitungen, -durchführungen und -nachbereitungen, Korrekturen, Konferenzen und Elterngespräche zentrale (und damit auch allgemein bekannte) Bestandteile des Lehrerberufsbildes – daher erscheinen sie qua grundlegende Aufgabenbereiche zunächst nicht ausdrücklich als implizite Belastungsmomente erwähnenswert, weil ja ‚normal‘. In ihrer (wie gesagt: stetig zunehmenden) Summe jedoch entsteht hierdurch insbesondere im Zusammenhang mit allen weiteren berufsinhärenten Tätig- und Verantwortlichkeiten eine Gesamtbelastung, wie sie nicht nur von vielen Berufsanfängern mangels Kenntnis hiervon häufig unterschätzt wird, sondern vor allem von vielen Kollegen auf Dauer nicht mehr bewältigt werden kann.

Die Reihenfolge der nachfolgenden Aufstellung ist eher zufällig als bewertend gewählt, so dass diese keinerlei Rückschlüsse auf deren – individuell wie schulspezifisch ohnehin unterschiedliche – Gewichtung zulässt:

1. Da ist zunächst einmal der landläufig vorurteilsbelastete Ruf der deutschen Lehrkräfte, das negative Lehrerimage auf den Punkt gebracht durch zwei immer wieder zu hörende Plattitüden wie „Lehrer werden geboren, kriegen Ferien und sterben“ oder „Lehrer haben vormittags recht und nachmittags frei“ (nur ungern erinnere ich mich in diesem Zusammenhang auch an unseres Altkanzlers „faule Säcke“). Nur merkwürdig, parallel hierzu auch immer wieder die Aussage zu hören „Unter den heutigen Bedingungen möchte ich kein Lehrer sein – immer dieser Stress mit den immer schwieriger werdenden Schülern.“ Dieser Widerspruch mutet schon irgendwie schizophren an.

[...]

Hauptteil II.

Fazit: Vorfahrt für Bildung!

Wer sich fragt, wie der zunehmende Lehrermangel am wirksamsten – und pädagogisch sinnvollsten – zu bekämpfen ist, ist gut beraten, nicht lediglich durch materielle (hier: finanzielle) Anreize oder Imagekampagnen an den Symptomen hierfür ‚herumzudoktern‘, sondern sich auf deren Ursachen zu konzentrieren. Auch die zwischenzeitlich in einzelnen Bundesländern erfolgte Erhöhung der Lehramtsstudienplätze, um dem eingangs erwähnten ‚Schweinezyklus‘ entgegenzuwirken, ist unter den gegenwärtigen, im ersten Hauptteil dieses Buches ausführlich dargestellten widrigen (Rahmen-)Bedingungen nicht effektiv genug, um den tatsächlichen Lehrerbedarf zu decken. Mangels ausreichender (Studien-)Interessenten entspricht folglich weiterhin das personelle Angebot (qua Lehramtskandidaten) rein quantitativ bei Weitem nicht der jeweils bundesstaatlichen Nachfrage (qua benötigte Lehrer). Die ökonomische Lehrformel, dass bei einem die Nachfrage (Lehrerbedarf) nicht deckenden Angebot (Lehramtsinteressenten) die Preise (sprich: das Gehalt als materielles Motiv) steigen müssten, ist weder aus fiskalischer Sicht umsetzbar, noch pädagogisch sinnvoll. Und sie greift hier auch nicht, denn auch ein höheres Gehalt würde unter den beschriebenen Bedingungen nicht zu einer signifikant steigenden Anzahl von Lehramtsinteressenten führen (und selbst wenn, dann lediglich aus dem o.e. materiellen Motiv heraus – keine wünschenswerte Ausgangslage für die Rekrutierung inhaltlich bzw. pädagogisch engagierten Personals). Um das personelle Angebot in bedarfsgerechtem Umfang zu steigern, bleibt hier offenbar lediglich eine Verbesserung der Rahmenbedingungen als auch pädagogisch vernünftige Option. Sicher ist richtig: „DIE Lösung gegen Lehrermangel gibt es nicht“ [KOMMUNAL. vom 17.08.2017: Ideen gegen den Lehrermangel?], aber es gibt einen entscheidenden Lösungsansatz zur Reduzierung der hier umfassend geschilderten Problematik: die Beseitigung der Entscheidungshemmnisse für den Lehrerberuf durch eine erhebliche Verbesserung der Rahmenbedingungen.

[...]

Exkurs für potentielle Lehramtsinteressenten

Wer auf die auch in diesem Zusammenhang langfristig bindende und lebensinhaltsentscheidende Frage „Willst Du trotz aller hier aufgeführten widrigen Rahmenbedingungen den Beruf des Lehrers ergreifen“ auch nach reiflicher Überlegung mit „Ja, ich will“ antwortet, sollte sich zusätzlich die selbstkritische Frage stellen, ob er zudem über die hierfür unabdingbaren extrafunktionalen Qualifikationen verfügt, um nicht letztlich am Beruf selbst zu scheitern, was ebenso fatale Folgen für den individuellen Lebenslauf mit sich brächte wie ein Scheitern an den oben aufgeführten berufstypischen Rahmenbedingungen. Zu diesen ‚Soft Skills‘ zählen vor allem Empathievermögen, Ausdauer, Belastbarkeit, ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, Toleranz, Einsatzbereitschaft, Konfliktfähigkeit und Durchsetzungsvermögen wie nicht zuletzt auch Teamfähigkeit. Und eine hohe Frustrationstoleranz (auch und insbesondere für den Zeitraum des Referendariats). Lebenslange Lern- und Fortbildungsbereitschaft sind hier gleichermaßen vorausgesetzt wie in wohl allen anderen verantwortungsvollen Berufszweigen.

25.11.2020, 10:58

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