„Eine Philosophie der Doxa“

Leseprobe Die Antworten scheinen klar zu sein, wenn es um Meinungen geht: Meinungen sind privat, subjektiv, beliebig oder willkürlich. Werden Meinungen Wissen gegenübergestellt, erscheinen sie als ein Provisorium, das möglichst schnell überwunden werden muss
Ohne geht es nicht: Die Diskussion unterschiedlicher Meinungen ist essentieller Teil funktionierender Demokratien.
Ohne geht es nicht: Die Diskussion unterschiedlicher Meinungen ist essentieller Teil funktionierender Demokratien.

Foto: TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images

1.

Wie würde eine Welt aussehen, in der es keine Meinungen gibt? Um eine solche Welt zu beschreiben, würden wir ohne Umschweife auf die Welt des Menschen bzw. die menschliche Lebensform zu sprechen kommen und uns vorstellen, ob diese Welt auch ohne Meinungen auskommen kann. Natürlich könnte man, nicht zuletzt angesichts von Annahmen zur Wirkung von ‚Meinungskorridoren‘ und Macht von ‚Meinungslenkung‘, auf die Idee kommen, eine Dystopie zu skizzieren, in der öffentliche – und vielleicht sogar private – Äußerungen reglementiert und ‚falsche Meinungen‘ zensiert werden. Aber zuerst einmal sehen wir von dieser Versuchung ab, denn sie führt in eine Sackgasse. Ein solches Szenario beschreibt nämlich keine Welt ohne Meinungen, sondern eine Welt, in der es nur die ‚richtigen Meinungen‘ gibt, wobei freilich immer noch zu fragen wäre, was hier ‚richtig‘ bedeuten kann, wie diese Meinungen erworben oder vermittelt werden und was in einem solchen Szenario überhaupt unter ‚Meinung‘ im Unterschied zu ‚Wissen‘ verstanden werden kann.

Es ist aufschlussreicher, aber natürlich auch komplexer, auf einer einfacheren Stufe in die Beschreibung der imaginierten meinungslosen Welt einzusteigen. Auf den ersten Blick würde uns eine solche Welt durchaus vertraut vorkommen. Wir treffen auf Menschen, die ihre Tätigkeiten verrichten, die arbeiten gehen, Lebensmittel einkaufen, Urlaube planen, gelegentlich ihre Versicherungspolicen prüfen oder auch Geburtstagsfeiern ausrichten. Natürlich wird in einer solchen Welt auch viel gesprochen. Am Arbeitsplatz tauscht man sich über die Aufgaben aus, beim Lebensmitteleinkauf auf dem Markt wird man sich mit den Verkäufern unterhalten, im Falle der Versicherungspolicen erkundigt man sich bei dem Versicherungsvertreter, ob sich die Konditionen geändert haben, und im Falle der Geburtstagsfeier verständigt man sich über einen adäquaten Termin oder die passenden Geschenke.

Für Meinungen ist prima facie kein Platz in einer solchen Welt. Die Dinge werden geregelt, sicherlich auf unterschiedliche Art und Weise. Die Gespräche sind eingebunden in Praktiken. Die Verhaltens- und Handlungsweisen sind vertraut und bieten wenig Irritierendes. Vielleicht wird ein Beobachter des Geschehens davon sprechen wollen, dass Meinungen ausgetauscht, gewechselt oder gebildet werden, doch in den jeweiligen Situationen spielen Meinungen zuerst einmal keine Rolle. Die alltäglichen Praktiken scheinen schlicht zu funktionieren. Noch am ehesten taucht die Meinung als Meinen im Falle einfacher Nachfragen im Sinne von Berichtigungen auf. Der Versicherungsvertreter könnte beispielsweise bemerken, dass diese oder jene Versicherung überflüssig sei, woraufhin er mit der Nachfrage konfrontiert wird, wie er dies meine und was er damit meine. Er wird dann vielleicht darauf hinweisen, dass die Fälle, die durch die Police abgedeckt werden sollen, in einer anderen Versicherung, die bereits abgeschlossen wurde, enthalten seien. Solche Berichtigungen kennen wir, sie sind uns vertraut und sie scheinen wenig aufregend zu sein. Das meinende Nachfragen scheint hier – zumindest auf den ersten Blick – nur die Funktion zu haben, dass ein Sachverhalt aufgeklärt wird, dann aber das Meinen mit der Antwort seine Funktion verliert. Man könnte geneigt sein, dass ein solches nachfragendes Meinen in der fiktiven Welt ohne Meinungen durchaus seinen Platz behält, da es letztlich nur eine Aufklärung von Sachverhalten provoziert. Sind die Fakten geklärt, ist dieses Meinen an sein Ende gekommen.

Nun ist dies nur ein Gebrauch von ‚Meinen‘ in dem fiktiven Arrangement. Der Fall zeigt aber, dass in der imaginierten meinungslosen Welt die Wörter ‚Meinung‘ und ‚Meinen‘ durchaus rege benutzt werden können, aber letztlich nur den Weg frei machen für anderes. In der fingierten Welt ohne Meinungen kann das Wort, der sprachliche Ausdruck ‚Meinung‘, sogar besonders beliebt sein. ‚Meinen‘ und ‚Meinungen‘ als sprachliche Ausdrücke ähneln dann vielleicht Etiketten oder Spielbällen, die allerorten auftauchen, vielfältig benutzt werden und für recht Unterschiedliches stehen. Dies könnte dann zu folgender Erweiterung der imaginierten Welt führen: In den Zeitungen würden z.B. Kommentare als Meinungen überschrieben, in Nachrichtensendungen würde explizit auf eine Meinungsäußerung eines Redakteurs hingewiesen, Leserbriefe würden von der Redaktion damit eingeleitet, dass es sich um Meinungen der Leser handle, und von den sogenannten Sozialen Medien könnte man vielleicht in der fiktiven Welt sagen, dass dort Meinungskämpfe ausgefochten werden. Auch lassen sich Gelegenheiten denken, in denen man sich über die letzte Theatervorstellung austauscht, Sportergebnisse und Spielertransfers erörtert oder nach Rat für einen Berufswechsel fragt und dabei die Meinungen von anderen einholt oder berücksichtigt.

Vielleicht wird man in dieser Welt, die immer noch eine fiktive ist, die politische Debatte und die mediale Berichterstattung darüber auch als Formen der ‚Meinungsbildung‘ verstehen, so wie man sich in diesem Gedankenexperiment ebenfalls um ‚Meinungsfreiheit‘ bemühen könnte. Denn die Foren des Austauschs und der strittigen Erörterung sollten alle zur Verfügung stehen.

Aber es könnte sein, dass – obwohl überall von Meinungen in all diesen Kontexten die Rede ist – es sich immer noch um eine Welt ohne Meinungen handelt, da das Etikett zwar benutzt wird, es aber eigentlich für Stimmungen, Emotionen, Präferenzen oder Befindlichkeiten von Einzelnen auf der einen Seite oder aber um gruppenspezifische Interessen oder kollektive Machtansprüche auf der anderen Seite steht. Auf diese Weise wird mit dem Ausdruck Meinung eigentlich mehr verdeckt, als dass er selbst etwas sagt.

In einer solchen meinungslosen Welt mag man also durchaus in den verschiedensten Bereichen auf den Ausdruck Meinung treffen. Es könnte sogar sein, dass dieser allfällige Wortgebrauch besonders ins Auge fällt und eine Meinungsforschung entsteht, die Daten zu den vermeintlichen Meinungen erhebt. Doch letztlich ließe sich auch hier von einer Welt ohne Meinungen sprechen, denn diese Meinungsforschung hat in der imaginierten Welt vielleicht nichts anderes als Wünsche, Interessen, Einschätzungen oder Emotionen zum Gegenstand.

Erstaunlicherweise gleicht diese Welt ohne Meinungen, wenn wir sie von außen beschreiben, unserer Welt. Von Meinungen ist viel die Rede, doch eigentlich kann es nur darum gehen, sie durch Fakten zu ersetzen oder aber unter Meinungen Stimmungen bzw. Interessen zu verstehen. Wenn also jemand in dieser Welt doch noch auf Meinungen pochen würde, so würde man ihn darauf hinweisen, dass er entweder die Fakten zur Kenntnis nehmen solle oder aber seine Äußerung nichts anderes als eine Stimmung sei.

Und doch regt sich an dieser Stelle Widerstand, etwas scheint in und mit dieser meinungslosen Welt nicht zu stimmen. Denn eine Welt, die ohne einen prägnanten Begriff von Meinung auszukommen sucht, scheint keine menschliche Welt zu sein. Zur Beschreibung der menschlichen Welt werden sicherlich die Kenntnis von Fakten (die freilich zu klären sind), das Verfolgen von Interessen (mit welchen unterschiedlichen Zielen und Mitteln auch immer) sowie der Umgang mit (den verschiedensten) Stimmungen gehören. Zur menschlichen Welt gehört aber auch, dem Wissen, den Fakten, den Stimmungen und Interessen einen Raum zu geben und sich in diesem Raum zu positionieren und Stellung zu beziehen. Eine meinungslose Welt wäre in diesem Sinne eine Welt, in der man alle möglichen Bezüge und Abhängigkeiten entdecken kann, die jedoch ihren „Bewandtniszusammenhang“ eingebüßt hat. Wenn auch allerorten von Meinungen die Rede wäre, so bliebe in dieser Welt offen, welche Bewandtnis es mit der Meinung für die menschliche Selbstverständigung hat. Es bliebe unklar, was man überhaupt in einem prägnanten Sinne unter Meinen und Meinungen verstehen darf.

2.

In Sein und Zeit entwickelt Heidegger die Idee der Bewandtnis aus dem praktischen Umgang mit dem ‚Zeug‘, mit dem wir täglich beschäftigt sind. Mit den Gebrauchsgegenständen, die uns umgeben, mit denen wir hantieren und die wir einsetzen, hat es eine Bewandtnis – sie sind nichts Beliebiges und erst recht nicht Nichts. Mit dem Telefon hat es seine Bewandtnis, wie es auch mit dem Fahrrad seine Bewandtnis hat. Wir können dies klären, indem wir die Praktiken analysieren, den Gebrauch beschreiben und eine Übersicht über die Struktur der Bewandtniszusammenhänge erlangen. Es ist jedoch keineswegs zwingend, diese Beschreibung auf das ‚Zeug‘, von dem Heidegger gerne und ausführlich spricht, zu reduzieren. Es ist darüber hinaus noch nicht einmal naheliegend, wenn durch die Bewandtnisganzheit, wie Heidegger es vor Augen schwebt, Welt erschlossen werden soll.

Die Welt des Menschen erschließt sich sicherlich über Bewandtniszusammenhänge. Jedoch ist es nicht einfach das Zeug, es ist die Doxa als das Phänomen des Meinens und der Meinung, die einen solchen Weltzugang eröffnen. Hannah Arendt, von Heidegger inspiriert, hat dies deutlich zum Ausdruck gebracht: „In jeder dóxa zeigt sich Welt. Sie ist nicht einfach Meinung. Und Welt zeigt sich nur in dóxa.“ Heidegger selbst hat diesem Gedanken Vorschub geleistet, wenn er ihn auf seinem späteren Denkweg auch nicht mehr in diesem Sinne weiter verfolgt, aber 1924 bemerkt: Doxa „erstreckt sich auf die ganze Welt“, und noch 1927 in Sein und Zeit in der Aristotelischen Rhetorik, die der Doxa einen besonderen Platz einräumt, nicht eine Technik, die schlicht auf Überzeugung zielt, sondern die „erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“ erkennt.

Solche Überlegungen reihen sich ein in das Projekt einer Rehabilitierung der Meinung, das nicht als ein explizit rhetorisches, rein kommunikationswissenschaftliches oder einfach linguistisches Vorhaben, sondern als ein philosophisches Grundlagenprogramm von Husserl in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angestoßen, von Heidegger aufgegriffen und von Arendt weiterentwickelt wurde, aber auch bei anderen, etwa in Wittgensteins Überlegungen, überaus präsent ist. Im Falle der Phänomenologie ist es der von Husserl initiierte Rückgang auf die Lebenswelt, der als Pathosformel das Vorhaben immer weiter vorantreibt. Der systematisch herausfordernde Kern der Lebenswelt besteht jedoch in der Klärung des Konzepts der Meinung. Denn die Lebenswelt ist die Welt, die nicht einfach nur diesen oder jenen Meinungen Rechnung trägt. Die Lebenswelt ist vielmehr diejenige Welt, in der die Doxa als nicht eliminierbare Infrastruktur menschlichen Lebens zur Geltung kommt.

Dieses Vorhaben gewinnt heute wieder eine besondere Relevanz und auch Brisanz angesichts der aufdringlich unklaren Lage, was wir unter den Bedingungen medialer Kommunikation, populistischer Tendenzen in Öffentlichkeit und Politik, identitätsverliebter Selbstdarstellung sowie angesichts einer fortschreitenden Instrumentalisierung wissenschaftlichen Wissens und der steigenden Unsicherheit, welche Bedeutung wissenschaftliches Wissen überhaupt besitzt, noch unter Meinungen verstehen wollen, dürfen oder können. Entweder fasst man Meinungen mit Samthandschuhen an, da sie anrüchig geworden sind, um sich vornehm von ihnen fernzuhalten. Oder aber es sind die Boxhandschuhe, mit denen man sich den Meinungen im Ringkampf stellt, um Gefolgschaft zu erreichen.

09.03.2022, 11:42

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