„Eine deutsche Geschichte in Bolivien“

Leseprobe Entlang der Spuren von Monika und Hans Ertl folgt Harrassers Recherche den Linien transatlantischer Verlängerungen nationalsozialistischer Karrieren und spürt dem Engagement der nächsten Generation in den internationalen Netzwerken der 1968er nach
Hans Ertl – während des zweiten Weltkriegs Rommels bevorzugter Frontfotograf – in hohem Alter auf seiner Rinderfarm in Bolivien.
Hans Ertl – während des zweiten Weltkriegs Rommels bevorzugter Frontfotograf – in hohem Alter auf seiner Rinderfarm in Bolivien.

Foto: Piero Pomponi/Getty Images

Vorspann

Schnelldurchlauf

Am 12. Mai 1973 wurde Monika Ertl in La Paz im Verlauf eines Feuergefechts von Sicherheitskräften auf der Straße erschossen. Monika war zum Zeitpunkt ihres Todes fünfunddreißig Jahre alt und Mitglied der bolivianischen Guerilla Ejército de Liberación Nacional (ELN, deutsch: Nationale Befreiungsarmee). Obwohl es nie ein Gerichtsverfahren gab, ist man sich ziemlich sicher, dass sie 1971 in Hamburg den bolivianischen Konsularbeamten Roberto Quintanilla Pereira erschossen hat. Die Urne mit der Asche des getöteten Amtsträgers, der sechs Jahre zuvor in Bolivien als Polizeioberst im bolivianischen Innenministerium für den Befehl, Ernesto »Che« Guevara nach seinem Tod die Hände zu amputieren, verantwortlich gewesen war, wurde nach La Paz überführt. Monika Ertl, die Attentäterin, hatte in Hamburg einen Zettel mit der Losung der ELN zurückgelassen: Victoria o muerte!

Monika Ertls Vater, Hans Ertl, überlebte seine Tochter um sechsundzwanzig Jahre. Er starb 2000 in der Chiquitanía, im östlichen Tiefland Boliviens. Er hatte als Kameramann für Leni Riefenstahl gearbeitet und war Generalfeldmarschall Rommels bevorzugter Frontfotograf gewesen. Der begnadete Bergsteiger und Abenteurer hatte sich in den 1960er-Jahren in den abgelegenen Regenwald zurückgezogen, um dort eine Hazienda mit Rinderzucht zu betreiben. Auch in der Abgelegenheit war er Teil der deutschen Kolonie in Bolivien, zu der einige treue Nationalsozialisten gehörten. Der prominenteste war ein Mann, den die Leute »Don Klaus« nannten, der international aber unter seinem richtigen Namen Klaus Barbiebekannt war. Dessen zweite Karriere im Zwischenraum von Diktatur, Paramilitarismus und Drogenhandel war Anfang der 1970er-Jahre gut in Schwung. Bis in die Achtzigerjahre arbeitete er rechten bolivianischen Diktatoren und Putschisten als Spezialist beim Kampf gegen »kommunistische Aufständische« zu. Als Geheimdienstberater des bolivianischen Diktators Hugo Banzer war Klaus Barbie, der sich in Bolivien Altmann nannte, wesentlich an Monika Ertls Exekution in La Paz beteiligt. Der Sohn des wegen NS-Kriegsverbrechen Gesuchten, Klaus Georg, übernahm wiederum die Ehrenwache bei Roberto Quintanillas Beisetzung.

Ein wichtiger Schauplatz der folgenden Episoden ist diese abgelegene Region, in der sich vielerlei transatlantische Linien kreuzen: die Provinz Chiquitos im Department Santa Cruz, Bolivien. Trotz ihrer lange Zeit schwierigen Erreichbarkeit war hier im 17. Jahrhundert eines der Hauptmissionsgebiete der Jesuiten, besonders solcher aus dem Donauraum. Später, im 19. Jahrhundert, waren es vor allem Franziskaner, die in der Chiquitanía missionierten, außerdem kamen (wiederum häufig deutsche) Ethnologen mit ihrem Bestreben, die Kultur und das Leben der bedrohten indigenen Gruppen aufzuzeichnen, bevor sie verschwunden sein würden.

Auch am Kautschukboom im 19. Jahrhundert, der der indigenen Bevölkerung Enteignungen und Unterdrückung brachte, waren zahlreiche deutschstämmige Akteure beteiligt. Großgrundbesitz ist bis heute nicht selten in den Händen deutscher Auswanderer, etwa der Familie Banzer, aus der jener Diktator Hugo Banzer stammte, der in den 1970er-Jahren autoritär regierte und dem Klaus Barbie-Altmann treu diente. Zwischen 2017 und 2020 war eine Wahrheitskommission eingesetzt, die in ihrem vorläufig letzten Bericht 130 erwiesene Fälle von politischem Mord, Folter und Verschwindenlassen dokumentierte. Die meisten dieser Fälle sind der ersten Regierung Banzer (1971–1978) zurechenbar. Es handelt sich bei den Opfern der Diktatur nicht nur um bewaffnete Aufständische und Mitglieder der bolivianischen Guerilla, sondern auch um Oppositionelle, Studierende, Lehrpersonal und linksgerichtete Geistliche. Hugo Banzer, der 1973 den Befehl für die Exekution Monika Ertls gab, war, wie es der Zufall will, Hans Ertls Nachbar in der Chiquitanía.

Viele Deutsche suchten also im Laufe der Zeit ihr Heil in der Chiquitanía. Hans Ertl wollte auf seiner Hazienda, wie viele vor ihm, »neu anfangen«. Sie war sein privates Paradies, ein Ort, wo er unbehelligt von seiner eigenen Vergangenheit leben konnte. Vielleicht hätte das auch funktioniert, wäre die Vergangenheit nicht in Form von Monika Ertls revolutionären Leidenschaften, die sie Inti Peredo, den Führer der ELN, als Christus besingen ließen, in die Chiquitanía zurückgekehrt.

Ein zweiter Schauplatz ist Kufstein in Tirol, auch er: Peripherie. Ich bin in der österreichischen Kleinstadt aufgewachsen, die malerisch zwischen dem hoch aufragenden Wilden Kaiser und dem einzeln dastehenden Pendling an der bayrisch-tirolerischen Grenze liegt. Es war eine Kindheit eingebettet in Natur: Wir gingen wandern, klettern, Skifahren, spielten im Wald und badeten in den Seen, die rund um Kufstein liegen. Einer davon ist der Stimmersee, ein kleiner, künstlicher Stausee etwas außerhalb, an dem sich ein Gasthaus, ein kleines Hotel und eine Badeanlage befinden. Unmittelbar neben dieser charmanten Ferienanlage, die auch von uns »Einheimischen« genutzt wurde, lebte bis 1982 Hans-Ulrich Rudel. Der im Zweiten Weltkrieg höchstdekorierte Sturzflieger war eine Schlüsselfigur im internationalen Netzwerk alter und neuer Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicht nur als Fluchthelfer von beispielsweise Josef Mengele war er viel auf Reisen, sondern er war auch deshalb so viel unterwegs, weil er als Vertreter österreichischer und deutscher Firmen reiste. Seit seiner Zeit in Juan Peróns Argentinien in den 1950er-Jahren, als er dort die Luftwaffe beriet, vertrat er Firmen wie Siemens oder SteyrDaimler-Puch und sorgte so dafür, dass zuverlässig Waffen an die Diktatoren Augusto Pinochet (Chile), Alfredo Stroessner (Paraguay) oder Hugo Banzer (Bolivien) geliefert wurden. Die österreichischen Grünen lancierten in den frühen 1980er-Jahren eine parlamentarische Anfrage, wie es denn sein könne, dass Steyr Kürassier-Panzer beim Kokain-Putsch von Luis García Meza in Bolivien zum Einsatz gekommen waren. Die Antwort: Weil Rudel sie vermittelte.

Und dann ist da noch Ute Messner (geb. Barbie), die Tochter von Klaus Barbie-Altmann, die in der Nachbarschaft der zweiten Frau meines Vaters in Kufstein-Eichelwang lebte und die über Hans-Ulrich Rudel nach Kufstein gekommen war. Warum, of all places, Kufstein? Vielleicht ist es ein Zufall, dass sich gerade hier, im Wald hinter dem Stimmersee, die transatlantischen Linien erneut treffen. Vielleicht hat esauch mit Kufsteins Lage als Grenzort und Verkehrsknotenpunkt zu tun, die es zu einem strategischen Punkt für die Nazifluchthelfer machte; oder damit, dass Zoll, Grenzpolizei und eine Kaserne ein gutes Milieu für nationale und konservative Parteien bildeten. Sicher ist, dass Kufstein nicht nur während der NS-Zeit deutlich weiter rechts orientiert war als die meisten umliegenden Ortschaften, sondern auch in den Nachkriegsjahren.

Es mag sein, dass durch die Konzentration auf nur wenige Personen und Orte die Geschichte, die ich erzählen werde, durch ihre Unwucht den vertrauten Rahmen der Historie verunsichert. Aber so ist Geschichte, insbesondere wenn sie koloniale Verhältnisse und den Nationalsozialismus miteinschließt. Sie rundet sich nicht, sie soll sich nicht runden. Recherchen öffnen manchmal seltsame Wege. Eigentlich wollte ich die kulturelle Kolonisierung durch die jesuitische Mission in Bolivien erforschen. Die andere Spur kam unverhofft.

Nahaufnahmen

Concepción, Chiquitanía, Bolivien (2018)

Der Regen versetzt uns in einen rauschähnlichen Zustand. Tropenregen, der als dicker Vorhang den überdachten Teil des Patios abtrennt. Aman schaukelt in der Hängematte, ich sitze in einem zu großen Sessel und versuche, Christian zu erreichen. Wir sind für morgen verabredet. Vom Sohn des Architekten, der in der Chiquitanía ab den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts die Jesuitenmissionen wiederaufgebaut hat, möchte ich mehr über Motive und Kontexte der Revitalisierung des jesuitischen Erbes hier erfahren. Hier, das ist Concepción de Chiquitos während eines Festivals für Alte Musik, das alle zwei Jahre in den ehemaligen Missionskirchen stattfindet und in erster Linie ein weißes Publikum anzieht. Hier, das ist der Innenhof des kleinen Hotels. Hier, das ist die Reisegruppe, in die ich mich quasi inkognito eingeschlichen habe. Niemand kennt meine Forschungsinteressen, niemand weiß, dass mein Unternehmen darin besteht, den neokolonialen Charakter des Festivals zu dokumentieren. Die beiden Mitreisenden aus Salta in Argentinien, ein junger Architekt und seine sicher achtzigjährige, immer perfekt gekleidete und frisierte Mutter – sie kennen meine Interessen nicht. Die pensionierte Ärztin aus London, die schon einmal hier war und auf der Suche nach den subtilsten ästhetischen Kontrasten ist, ebenfalls nicht. Unsere lustige und äußerst engagierte Reiseführerin aus Santa Cruz, die uns davon erzählt, wie sie sich in einer Frauengruppe gegen die Veränderung der Wahlordnung, die eine Wiederwahl von Evo Morales erlaubt hätte, engagiert hat, ist ebenso ahnungslos wie Aman, der eigentlich mit seinem indischen Onkel zum Festival anreisen wollte und nun ohne ihn etwas verloren wirkt. Aman, mit dem ich über Science-Fiction, Ökofeminismus und Kolonialismus diskutiere und mit dem ich anfange, ein Kinderbuch herbei zu fantasieren. Es soll ein Buch sein, das die Farben der Chiquitanía hat – erdrot, grün, blau – und den Titel trägt: Was der Tukan alles nicht essen kann. Die Dysfunktionalität des Schnabels des Tukans bringt uns auf immer neue Ideen: Nüsse, Fleisch, Insekten, das geht alles nicht. Wir haben uns schnell zusammengefunden, sitzen bei den Konzerten nebeneinander, tuscheln und witzeln wie Zwölfjährige auf Klassenfahrt. Aman hat Physik studiert und ist Programmierer. Er möchte aber nicht mehr für die Silicon-Valley-Firmen arbeiten, sondern entwickelt digitale Nachhaltigkeitsstrategien für NGOs. Seine Herkunft – seine Eltern sind aus Indien in die USA gekommen – beschäftigt ihn, gerade auch im Kontrast zu dem, was wir in Bolivien erleben. Und so lernt die Reisegruppe bei den gemeinsamen Abendessen die Zutaten nicht nur auf Spanisch, Englisch und Deutsch zu benennen, sondern auch auf Hindi.

Es regnet also. Aman träumt in der Hängematte von Schildkröten. Ich warte auf Christians Nachricht. Hier, das ist auch der Ort, an dem in den 1970er-Jahren zwei deutsche Ethnologen gearbeitet haben: Jürgen Riester und Bernd Fischermann. Beide sind nach ihren Dissertationen aus der rein akademischen Ethnologie aus- und in den Kampf um Landrechte der Indigenen eingestiegen. Ich durchstöbere das Archiv der Organisation APCOB (Apoyo Para el Campesino-Indígena del Oriente Boliviano) auf Youtube. Jürgen Riester hat in den Achtziger- und Neunzigerjahren in der Chiquitanía viele Videos gedreht. Es ging um die Dokumentation der Lebensweise der indigenen Gruppen aus dem bolivianischen Tiefland und um ihren Kampf um kulturelle und ökonomische Selbstbestimmung. Etwas abwesend überfliege ich die Miniaturen im APCOB-Kanal und mein Blick bleibt an einem weißhaarigen Kopf, an einem weißbärtigen Gesicht hängen. Ein Alm-Öhi schaut mich an. Der Titel des Videos ist Hans Ertel parte 3. Ich assoziiere vage etwas mit dem Namen und rufe den Film auf. Die Internetverbindung ist zu schwach. Auch der Regen wird schwächer. Aman ist aufgewacht und schaukelt nun. Die Reiseführerin verteilt die Tickets für das heutige Konzert, ein polnischer Chor, der in der Jesuitenkirche von Concepción auftritt. Christian hat sich gemeldet, ob ich ihn gleich morgen früh um sieben auf der plaza treffen kann. Ich kann natürlich. Dann kommt das Treffen auch nicht mit dem durchorganisierten Programm der Reisegruppe ins Gehege. Ich bin neugierig, was er mir als kindlicher Zeitzeuge über die abenteuerliche Wiederentdeckung des jesuitischen Erbes in den 1970er-Jahren erzählen kann. Die verdeckten Ermittlungen machen mir Spaß, nur langsam wird es kompliziert mit Aman. Wir verstehen uns zu gut und es fällt mir schwer, ihn nicht einzuweihen, mit ihm die Dinge zu besprechen, die mich beschäftigen, zumal wir immer wieder über die kulturelle Kolonisierung Indiens im Verhältnis zu derjenigen Südamerikas diskutieren. Es wäre nur ein kleiner Schritt zur longue durée der kulturellen Kolonisierung durch die jesuitische Mission, in deren Resonanzraum wir mit jedem Konzert in einer der Kirchen eintauchen.

[...]

22.03.2022, 15:02

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