Schafft die Privilegien der Kirche ab!

Leseprobe Weniger als die Hälfte der Deutschen gehört noch einer der beiden Kirchen an, die aber verfügen weiterhin über enorme Privilegien. Dem Staat kommt es gelegen, wenn Diakonie und Caritas soziale Aufgaben übernehmen – sei es auf Kosten des Arbeitsrechts
Unverzichtbare Unterstützung: Diakonie und Caritas übernehmen in Deutschland wichtige soziale Aufgaben
Unverzichtbare Unterstützung: Diakonie und Caritas übernehmen in Deutschland wichtige soziale Aufgaben

Foto: Hannes Magerstaedt/Getty Images

Statt eines Vorworts: Die Lage ist ernst oder schon hoffnungslos?

Es steht nicht gut um die beiden ehemals großen Kirchen. Nur noch knapp unter 50 Prozent der Bevölkerung gehören ihnen an, Tendenz stark abnehmend. Immer weniger Kinder werden getauft, immer mehr Kirchenmitglieder treten aus und die älteren Gläubigen sterben. Und dann auch noch das: Missbrauchsskandale und finanzielle Vetternwirtschaft, wie von Bischof Tebartz-van Elst in Limburg oder Bischof Hanke in Eichstätt praktiziert, führen zumindest für die katholische Kirche zu einem Vertrauensverlust nicht geahnten Ausmaßes. Im Ansehen der Bevölkerung rangiert sie inzwischen hinter der schon unbeliebten Versicherungsbranche. Auch der charismatisch gestartete und zunächst medial gehypte Papst Franziskus musste Federn lassen und führt sein Amt inzwischen nicht mehr unangefochten. Der mit viel Hoffnung gestartete Reformprozess des »Synodalen Weges«, eine Antwort auf die erkannten systemischen Ursachen für den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche, endet vor den römischen Mauern, obwohl seine zarten Reformversuche im Bereich der Sexualmoral oder die Forderung nach einer auch nur symbolischen Beteiligung von Gläubigen an kirchlichen Leitungsentscheidungen wenig spektakulär erscheinen. Aber selbst kleinste Reformschritte werden sofort zurückgepfiffen. Für viele Beobachter der katholischen Kirche wirkt sie mit ihrem Mindset wie aus der Zeit gefallen. Die innerkirchlichen Polarisierungen zwischen den verschiedenen Blasen vom ganz rechten Rand – und dies darf durchaus auch allgemeinpolitisch verstanden werden – bis zu den Reformern lähmt die katholische Kirche, lässt sie wie in einem Stellungskrieg erstarrt und tot erscheinen.

Doch Totgesagte leben länger. Politische Entscheidungsträger lassen es sich weiterhin nicht nehmen, die Sternsinger Anfang des Jahres zu empfangen, um mit anrührenden Bildern der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass die Kirchen doch Gutes für die Gesellschaft und für die Kinder dieser Welt bewirken. Und selbst wenn sich Politiker:innen nicht mehr mit dem in die Kritik geratenen Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki ablichten lassen, fehlt doch bei keiner Eröffnung einer neuen Legislaturperiode des Deutschen Bundestags die ökumenische Andacht, bei der Vertreter:innen der beiden Kirchen die Abgeordneten und die Regierungsmitglieder geistlich auf eine dem Gemeinwohl verpflichtete Politik einschwören. Beide Büros der Kirchen in Berlin leisten bis heute eine diskrete, in Teilen immer noch wirkmächtige Lobbyarbeit für die kirchlichen Interessen. Doch halt: Kommen da nicht von der aktuellen Regierung unmissverständliche Signale der deutlichen Distanz zu den Kirchen? Während der langen Regierungszeit Angela Merkels gehörte es zum guten Ton der Berliner Politik, dass die Spitzen der Regierung und Opposition zum Michaelsempfang der katholischen Kirche kamen, um den Worten des weltgewandten Mainzer Kardinals Karl Lehmann zu lauschen. Diese Zeiten scheinen unwiderruflich vorbei: Beim letzten Empfang sah man zwar den Katholiken und Oppositionsführer Friedrich Merz, ansonsten aber nur die dritte und vierte Garnitur der Parteien, jedoch nicht den Kanzler oder ein Kabinettsmitglied, um dem gutmütigen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing aus Limburg zuzuhören. Zeigt sich hier eine Entfremdung der herrschenden politischen Klasse von den beiden Kirchen, die man nicht mehr für gesellschaftlich relevant betrachtet? Ein Indiz könnte auch der aktuelle Koalitionsvertrag sein, der den Kirchen nur wenige Zeilen widmet, um anzukündigen, kirchliche Sonderrechte im Arbeitsrecht zu streichen. In der Tat: Konnte es sich ein Kanzler Kohl in Zeiten von Kardinal Höffner und Kanzlerin Merkel in Zeiten von Kardinal Lehmann einfach nicht leisten, sich in grundlegenden Fragen wie dem Schutz des ungeborenen Lebens oder der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe gegen die katholische Kirche zu stellen, wollte man nicht erhebliche Wählerschichten verlieren, so wird diese gesellschaftspolitische Kraft der beiden Kirchen aktuell nicht mehr so ernst genommen, dass man auf sie irgendwie Rücksicht nehmen müsste. Beispielhaft steht hierfür der Plan der Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen), den § 218 StGB zu streichen. Dieses Ansinnen wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen, zum einen, um nicht den gesellschaftlichen Frieden durch den gewonnenen Kompromiss der straffreien Abtreibung nach Beratung zu gefährden, und andererseits nicht in Konflikt mit der katholischen Kirche zu geraten. Es überrascht daher nicht, dass die reflexhafte Kritik von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken an dieser Ankündigung ohne erkennbare Resonanz in der Berliner Politik verhallte.

Wie unübersichtlich die Lage augenblicklich allerdings noch zu sein scheint, wird an einem katholischen Ministerpräsidenten wie Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) in Baden-Württemberg deutlich. Er glaubt nicht nur, dass die katholische Kirche weiter ein wichtiger gesellschaftlicher Player sein wird, signalisiert bei der Ablösung von Staatsleistungen noch viel Geduld und die Bereitschaft, die bisher bewährte Praxis jährlicher Zahlungen noch länger fortzuführen, bürstet seinen Landesschülerrat ab, der statt Religionsunterricht mehr politische Bildung fordert, und attestiert den deutschen Bischöfen bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt gute Fortschritte. Einen besseren Anwalt für ihre Interessen könnte sich die katholische Kirche in Deutschland nicht wünschen. Die meisten Themen, die zwischen Kirche und Staat ausgehandelt werden müssen, wie Religionsunterricht, theologische Fakultäten, kirchliche Schulen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, zählen zu den Angelegenheiten der Länder. Dort spielt die Musik der Religionspolitik, nicht in Berlin. Und hier gehören die meisten politischen Eliten, geboren in den fünfziger bis siebziger Jahren der alten Bundesrepublik, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, einer der beiden Kirchen an. Katholisch sind Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz, SPD), Daniel Günther (Schleswig-Holstein, CDU), Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg, Bündnis 90/Die Grünen), Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt, CDU), Hendrik Wüst (Nordrhein-Westfalen, CDU), Anke Rehlinger (Saarland, SPD), Boris Rhein (Hessen, CDU); evangelisch sind Michael Kretschmer (Sachsen, CDU), Markus Söder (Bayern, CSU), Bodo Ramelow (Thüringen, Die Linke), Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern, SPD) und Kai Wegner (Berlin, CDU). Peter Tschentscher (Hamburg, SPD) ist aus der katholischen Kirche ausgetreten, der er sich aber nach eigener Aussage weiterhin verbunden fühlt, ebenso Stephan Weil (Niedersachsen, SPD). Nur Andreas Bovenschulte (Bremen, SPD) scheint keiner Kirche anzugehören oder nahezustehen. Die meisten der Ministerpräsident:innen gehören also einer der beiden ehemals großen Volkskirchen an und auch Finanzminister Christian Lindner, der aus der katholischen Kirche ausgetreten ist, war es offenbar wichtig, auf Sylt vor einer evangelischen Pastorin zu heiraten – ein Umstand, der in beiden Kirchen zu hitzigen Diskussionen geführt hat, weil auch seine Braut, die Journalistin Franca Lehfeldt, aus der evangelischen Kirche ausgetreten war.

Wie steht es also um das Verhältnis der Kirchen zur Politik? Sind die goldenen Zeiten der politischen Wertschätzung in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig vorbei, die geprägt waren von einem betont religionsfreundlichen Grundgesetz, das den Kirchen breite Handlungsspielräume im Bildungs- und Sozialbereich öffnete? Es geht in diesem Buch um eine Bestandsaufnahme einer Allianz, die schon lange nicht mehr heilig ist, weil Politik und Kirchen immer weiter auseinanderdriften, gleichzeitig aber durch vielfäl­tige institutionelle Verflechtungen auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind. Ich schreibe aus der Perspek­tive eines Theologen und Kirchenrechtlers, der aus Überzeugung der katholischen Kirche angehört und auch nicht vorhat, seiner Kirche den Rücken zu kehren. Das mag erklären, dass ich stärker auf die katholische Kirche eingehe, ohne dabei die evangelische Kirche zu vergessen. Zu meinen Erfahrungen zählen aber auch sechzehn Jahre in verantwortlicher Position in der bischöflichen Verwaltung im Bistum Limburg und als Persönlicher Referent von Bischof Franz Kamphaus, der durch sein Einstehen für den Verbleib der katholischen Kirche in der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung weit über die Grenzen seines Bistums hinaus bekannt geworden ist und heute hochbetagt in einer großen Behinderteneinrichtung im Rheingau als Seelsorger für diese Menschen lebt und arbeitet. In der Zusammenarbeit mit den beiden katholischen Büros in Mainz bei der rheinland-pfälzischen Landesregierung und in Wiesbaden bei der Hessischen Landesregierung sind mir das politische Geschäft der katholischen Büros und ihre Themen auch praktisch gut vertraut. Dies ist also nicht das Buch eines Aussteigers, der über dunkle Machenschaften seines ehemaligen Dienstgebers plaudert, auch nicht ein Buch in der Machart weltanschaulicher Pressure-Groups wie der Humanistischen Union oder der Giordano-Bruno-Gesellschaft, deren erklärtes Ziel die Abschaffung aller Privilegien der beiden Kirchen ist. Auch wenn es um das Thema Kirchenfinanzen und Kirchenvermögen gehen soll, ist es kein »Violettbuch Kirchenfinanzen«1, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme noch immer fehlender Check-and-Balance-Standards bei der transparenten Verwaltung kirchlicher Finanzen, vor allem der mangelnden staatlichen Strafverfolgung von Bischöfen und ihren engsten Mitarbeiter:innen, die mit Vermögen untreu um­gehen, das nicht ihnen, sondern den Gläubigen gehört. Ein aktueller Fall aus dem krisengeschüttelten Bistum Eichstätt zeigt, wie unzureichend noch immer die Vermögenskontrolle der Kirchen funktioniert.2 Es geht also einerseits um das Zusammenspiel von Politik und Kirchen in jüngster Vergangenheit, in Fragen der Kirchenfinanzierung, im Umgang mit kirchlichem Vermögen, bei der Aufarbeitung und strafrechtlichen Ahndung von sexualisierter Gewalt in den Kirchen, es geht um die Ablösung von Staatsleistungen, die Angleichung des kirchlichen Arbeitsrechts an die Standards des staatlichen Arbeitsrechts und die oft schwierige Zusammenarbeit von Staat und Kirchen bei theologischen Fakultäten und Instituten an staatlichen Universitäten. Andererseits wird auch die Frage zu erörtern sein, inwiefern sich der Staat auf seinen verschiedenen Ebenen, vor allem der Länder und Kommunen, mit den einst großen Volkskirchen arrangiert hat und warum beide Institutionen augenscheinlich nicht voneinander lassen können.

30.10.2023, 11:55

Buch: Weitere Artikel


Thomas Schüller: Streitbarer Kopf

Thomas Schüller: Streitbarer Kopf

Biografie Thomas Schüller ist bekannt für kritischen Stellungsnahmen zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche. Er findet: Sexuellen Missbrauch verfolgt die kirchliche Justiz so halbherzig wie Veruntreuung – und die weltliche Justiz schaut zu
Kaum Strafverfahren gegen Geistliche

Kaum Strafverfahren gegen Geistliche

Hintergrund „Für katholische Geistliche gilt das weltliche Recht wie für jeden anderen Bürger auch. Doch viele der bekannt gewordenen Missbrauchsfälle sind verjährt – auch weil die Kirche ihre Macht genutzt hat, um Priester vor Strafverfolgung zu schützen“
„Die jetzige Situation hat keine Zukunft“

„Die jetzige Situation hat keine Zukunft“

Netzschau Stimmen aus dem Netz: „Der Staat schätzt die Wohlfahrtsverbände der Kirchen – ohne sie geht mancherorts nichts. Das sorgt nach Ansicht von Thomas Schüller für staatliche Beißhemmungen gegenüber der Kirche, für Privilegien und grundrechtsfreie Räume.“

Thomas Schüller | Interview

Video Zentrale Frage der Gutachten zu Missbrauchsfällen innerhalb der Erzdiözese München und Freising: Was wussten die Entscheidungsträger Ratzinger, Wetter und Marx? Für den Kirchenrechtler Schüller wirkt das Dementi Ratzingers wenig glaubwürdig


Thomas Schüller | Interview

Video Prof. Thomas Schüller (Theologe und Kirchenrechtler Universität Münster) zum Verdacht der falschen Versicherung an Eides Statt und des Meineids von Kardinal Rainer Woelki


Gedanken zur Macht | Gespräch

Video „Gedanken zur Macht“ mit Univ.-Prof. Dr. Thomas Schüller. Der Theologe und Kirchenrechtler war lange Jahre im Bistum Limburg v.a. als Leiter der Stabsstelle Kirchliches Recht tätig, bevor er 2009 Universitätsprofessor für Kirchenrecht wurde


Missbrauch in der Kirche | Doku

Video Gemeinsam mit Stephan Alfter sucht Reporter Dennis Leiffels in der Reportage „Missbrauch im Namen Gottes“ nach den „Ziehsöhnen“ des bereits verstorbenen Kardinals Motzenbäcker, dem mehrfacher Missbrauch vorgeworfen wird. Eine Rabiat-Dokumentation