Mehr Lebensraum für Mensch und Natur

Leseprobe Trotz der enormen Umweltschäden und hohen Unfallzahlen wachsen Jahr für Jahr die Autobahnlandschaften, steigen die Belastungen durch Abgase und Lärm, sodass sich die Frage stellt, warum der Mensch sein Verhalten nicht ändert
Was gibt es schöner, als in der Stadt ein Stück Natur zu entdecken?
Was gibt es schöner, als in der Stadt ein Stück Natur zu entdecken?

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Vermutlich hat keine technische Innovation das Handeln des Einzelnen und der Gesellschaft so grundlegend beeinflusst wie das Auto. Abgesehen von einigen Versuchen zu Beginn der Motorisierung, die Vorrechte der Menschen im öffentlichen Raum zu erhalten, hat das Auto die Menschen letztlich wie von selbst dazu gebracht, Straßen in lebensbedrohliche Fahrbahnen umzubauen und mit Abstellplätzen für nicht benutzte Fahrzeuge – vielfach noch immer ohne Gegenleistung – zu versehen. Wenn es hingegen um das Primärbedürfnis Wohnen geht und darum, sich zu diesem Zweck allgemeines Eigentum anzueignen, wird dies von der Gesellschaft nicht toleriert. Im Freiland wird lebendige Natur mit hohem öffentlichen Aufwand unter Streifen und Flächen aus Beton und Asphalt begraben, mit denen Landschaften wie nie zuvor in der Geschichte des Verkehrswesens verändert und bestehende Lebensräume zerschnitten werden.

Was ist passiert, dass aus einer Welt für die Menschen, um die sie sich über die Jahrtausende bemüht haben, innerhalb nur eines Jahrhunderts eine Welt für das Auto und den Autoverkehr wurde – und das offensichtlich mit Zustimmung der Allgemeinheit?

In diversen Büchern haben Autoren versucht, anhand der sozialen und städtischen Symptome der Automobilität die Verluste und Gefahren der Motorisierungsentwicklung darzustellen. Das jedoch hat die Gesellschaft nicht davon abgehalten, diese wie unter Zwang weiter zu betreiben.

Erst über die Evolutions- und die evolutionäre Erkenntnistheorie führte der Weg auf der Suche nach den Ursachen dieser Entwicklung in das Stammhirn des Menschen, in dem das Auto seine Wirkungen so entfalten kann, dass sich die Wertesysteme der automobilen Gesellschaft derart verändern, dass sie den menschlichen zuwiderlaufen, dass Beton und Asphalt mehr geschätzt werden als die Natur, dass die Rechte der Autos Vorrang haben vor der Sicherheit und freien Mobilität unserer Kinder. Unsere Vernunft, beruhend auf den 0,1 bis 0,2 PS unserer menschlichen Fußgängermobilität, verliert durch die Hunderte von PS eines Pkw, mit dem wir zu einem Überwesen mit übermenschlichen Ansprüchen verschmelzen, mit Begeisterung den Bodenkontakt. Eine Verwandlung, die mit viel Engagement und Steuergeldern auch durch die Politiker unterstützt wird, in deren Köpfen sich das Autovirus ebenfalls eingenistet hat. Aktuelle Beispiele dafür gibt es allerorten in großer Zahl, ob in Berlin, Wien oder bei der EU in Brüssel, in Peking ebenso wie in unzähligen anderen Städten und Regionen der Welt. Wie alle anderen Viren auch ist das Autovirus global aktiv, umso mehr, wenn es wie bisher von allen Seiten unterstützt wird.

Die Situation der Vernunft scheint aussichtslos, wenn man die Unzahl an Versuchen betrachtet, das Virus auf der Ebene der Symptome zu bekämpfen, die mehr oder weniger sichtbar sind. Sie wäre weit weniger aussichtslos, wenn man stattdessen bei den Ursachen ansetzen würde. Diese aber befinden sich tief in unserem Stammhirn, das, vom Virus befallen, für das Auto denkt, für das Auto handelt, das Auto toleriert, wo es nicht tolerierbar ist, Autorechte fordert, auch wenn dafür fundamentale Menschenrechte drastisch beschnitten werden, ohne dass es die Autogesellschaft überhaupt merkt. Die eigentliche Normalität, dass es keine Autoabstellplätze geben sollte, wird als Anomalie der Autonormalität empfunden. Die Lösungen zur Wiederherstellung von Vernunft und Verantwortung für die Menschen liegen im Rechtssystem, in der Finanzordnung, in der Bildungspolitik, in der Verwaltungspraxis – Ziel muss es sein, die physische, finanzielle und rechtliche Zwangsbindung des Autos an die Menschen wieder aufzulösen. Da Viren bekanntlich ansteckend sind, ist ein permanentes Monitoring mit wirksamen Sanktionen gegen die dem Virus innewohnende Unmenschlichkeit unverzichtbar.

12.12.2023, 09:16

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