Handbuch der Kollapsologie

Leseprobe Der Zusammenbruch steht am Horizont unserer Generation, er ist der Beginn ihrer Zukunft. Was wird danach kommen? Über all das muss nachgedacht und eine Vorstellung entwickelt werden – und wir müssen unser Leben danach ausrichten
Handbuch der Kollapsologie

Foto: Carsten Koall/Getty Images

Wir erinnern daran, dass die Frage der großen globalen Katastrophen Anfang 2010 noch keinerlei öffentliche Diskussion auslöste. Und eine Diskussion über einen möglichen Zusammenbruch unserer Gesellschaft (und der Biosphäre) noch weniger. Natürlich wussten damals schon alle, dass „die Hütte brennt“: der Klimawandel, die verschiedenen Formen der Verschmutzung, die Schädigung der Biodiversität – all diese Warnzeichen waren bekannt, wurden aber als Begleiterscheinungen wahrgenommen, die nicht so verheerend zu sein schienen, um das Leben auf der Erde nachhaltig beeinträchtigen zu können, geschweige denn unseren Lebensstil. Jedenfalls war dieser nicht verhandelbar. Die großen Brüche, ob gewollt oder ungewollt, waren schlicht und einfach nicht vorstellbar. Im Großen und Ganzen glaubte niemand daran.

Trotzdem: Einige wussten es sehr wohl. Die Informationen über Dynamiken und Risiken des Zusammenbruchs zirkulierten in wissenschaftlichen Kreisen (seien sie ökologischer, klimatologischer Natur oder unter Physiker*innen usw.) ebenso wie bei den seltenen Ökolog*innen, die als „radikal“ betrachtet wurden. Diesen Leuten war gemein, den verlautbarten Katastrophismus der Siebzigerjahre nicht vergessen zu haben, der seine bekannteste Ausprägung im Bericht des Club of Rome von 1972 hatte. Unter den informierten Gruppen muss man außerdem das recht abgeschlossene Milieu der Überlebenskünstler*innen nennen, die sich aktiv auf große soziale und ökonomische Brüche vorbereiteten (und sich noch immer darauf vorbereiten), die sie als unmittelbar bevorstehend einschätzten. Sie stützten sich auf einige Erfolgsautor*innen (die meisten von ihnen anglophoner Herkunft). Wie auch immer: Niemand aus diesen Kreisen hatte Zugang zu den Massenmedien.

Das Buch, das Sie in den Händen halten, stammt aus dem Jahr 2015. Wenn es etwas zu seiner Zeit beitragen konnte, dann dies: das Denken über die Diskontinuität, die Brüche, die Unvorhersehbarkeit von Weggabelungen und das, was wir unter Endlichkeit verstehen; das Denken über die Verletzlichkeit als 21 Gesellschaft, als Spezies, als Planet Erde.

Unvorhersehbarkeit und Diskontinuität sind ebenfalls Schlüsselwörter dieser abenteuerlichen Edition, die äußerst bescheiden begann. Nach drei Jahren unabhängiger Forschung zu zweit (mit eigenen Mitteln und losgelöst von jeglicher Universität) besuchte der Historiker und Verleger Christophe Bonneuil einen Vortrag, den wir vor einem kleinen Kreis in Brüssel hielten. Am Ende unterbreitete er uns den Vorschlag, aus unseren Forschungen ein Buch zu machen. Warum nicht?! Gleichwohl ist es seltsam, sich daran zu erinnern, dass unsere Begeisterung für dieses Projekt ein wenig mit der Angst des Verlags kontrastierte, ein Buch mit einer zu finsteren Zukunftsvision zu produzieren, das demoralisierend wirken – und möglicherweise unverkäuflich sein könnte.

Nach sechs Jahren – und mit mehr als 100.000 verkauften Exemplaren allein der französischsprachigen Ausgabe – und wunderbaren Rückmeldungen von Leser*innen, nach einem lang anhaltenden und bemerkenswerten medialen Sturm im Blätterwald sowie nach Übersetzungen in mehrere Sprachen kann man sagen, dass dieses Buch eine Schlüsselrolle darin spielte, einen Umschwung in unserer Vorstellungskraft, einen epochalen Umschwung herbeizuführen, nämlich in der Bewusstwerdung der absoluten Dringlichkeit, in der wir uns befinden.

Die Leser*innen sagen uns, dass die Lektüre dieses Buches zu einem Umschwung im Inneren führe. Es gebe ein Davor und ein Danach. Fragen stellen sich: Befinden wir uns etwa so nahe an einer wahrlich katastrophischen Zukunft, wie wir es niemals dachten? Und wenn die Ereignisse wirklich in großem Maßstab eintreten? Und wenn wir uns letztendlich als sterblich erweisen, wir, die Angehörigen der Moderne? Und wenn die künftigen Generationen – wir selber sind? Es gibt da ein genuines Entsetzen, einen Schock, wenn die eigene Sichtweise umschlägt.

Dieses Buch wurde nicht geschrieben, um Angst zu machen, sondern um unsere Angst zu domestizieren. Es wurde geschrieben, um ein Maximum an Leser*innen zu warnen und ein wenig Vernunft in Debatten zu tragen, die sonst zu leicht von gigantischen Affekten geprägt sind – und damit wir als Gesellschaft besser reagieren können.

Heute ist die Thematik eines möglichen Zusammenbruchs unserer Gesellschaft oder der Zivilisation oder auch der Biosphäre solide in den Gesprächen und den Vorstellungsvermögen größerer Bevölkerungsgruppen verankert. In der Tat fügen sich die aktuellen Katastrophen in die hier dargestellte Erzählung ein und reichern sie an. Die globalen Brüche und die systemischen Krisen sind von nun an Teil des Möglichen und des Denkbaren – wie es beispielsweise der Ausbruch der Covid-19-Pandemie zeigte.

Um in groben Zügen die kurze Lebensdauer dieses Buches aufzuzeigen: Man kann sagen, dass es darin zwei Phasen gibt, unterbrochen durch den Herbst 2018. In den ersten Tagen nach Erscheinen und während weiterer drei Jahre erfuhr dieses Buch ein gleichbleibendes und sehr positives Echo sowohl von Leser*innen als auch von Wissenschaftler*innen – auch eine gute Presseberichterstattung, die zurückhaltend, aber von neugierigem und an Details orientiertem Interesse geprägt war (z. B. von den Zeitungen, Onlineportalen und Radiosendern L’Écho, Les Échos, Le Soir, La Vie, Le Canard enchaîné, Mediapart, Libération, Bastamag, Reprorterre, France Culture, RTS, RTBF usw.). In diesen drei Jahren mauserte sich das Buch langsam, aber sicher zu einem kleinen Bestseller, der in ökologischen Kreisen und unter Intellektuellen Beachtung erfuhr.

Im August 2018 kam es jedoch zu einem Umschlag, einer Art Explosion. In jener Zeit trat Umweltminister Nicolas Hulot, der unter Präsident Macron anfangs Minister für ökologische und solidarische Transition war, unter großer Medienaufmerksamkeit von seinem Posten zurück (was in Frankreich als einschneidendes Ereignis wahrgenommen wurde). Gleichzeitig erschienen ein aufsehenerregender Artikel der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften über die Gefahr eines „überhitzten Planeten“1 sowie weitere gut belegte Artikel über den Zusammenbruch. Sie wurden in französischen Massenmedien besprochen (Tageszeitung 20minutes.fr, auch im Nachrichtensender BFMtv.com). In den folgenden Wochen wurde die Welt auf einen neuen Lagebericht des Weltklimarats (IPCC) aufmerksam und sah die Geburt der Bewegung Extinction Rebellion (XR), hörte die Reden von Greta Thunberg oder nahm die Revolte der Gelbwesten in Frankreich wahr. Mitten in dieser Aufschwungphase erschien im Oktober 2018 – mehr oder wenig zufällig – unser zweites Buch Une autre fin du monde est possible (Ein anderes Ende der Welt ist möglich) und etablierte im frankophonen Medienbereich das Thema des Zusammenbruchs dauerhaft (sagen wir, das Chaos als Quelle des Bruchsund der Bruch als Quelle des Chaos). Selbst über das Ende der Welt wurde nun diskutiert.

Seither nahm sich auch die französische Tageszeitung Le Monde des Themas an, wodurch eine mediale Schwelle überschritten wurde, die das Medieninteresse nicht mehr abklingen lässt. Damit einher ging eine Flut von Kritiken sowohl positiver als auch negativer Art, vor allem aber zunehmend irrationaler Natur. Viele Influencer und Kommentator*innen machten sich nicht mehr die Mühe, die Diskurse zu entwirren, man musste nur noch die eigene Meinung über das mögliche Ende der Welt kundtun (doch diese Welt „hat schon immer existiert“, war das bekannteste Urteil). Damit vervielfältigten sich die Missverständnisse und karikaturhaften Wahrnehmungen und blendeten äußerst komplexe und seriöse Diskurse aus, besonders zwei von den Diskursen, die wir mit diesem Buch in den Mittelpunkt stellen wollten.

Im Malstrom der Medien wurde dieses Buch erst spät zur Referenz, zu einem populärwissenschaftlichen Bestseller. Parallel zu uns veröffentlichten Autor*innen Werke über den Zusammenbruch oder die Kollapsologie; Wissenschaftler*innen begannen Forschungsprojekte über deren Themen (aber die Veröffentlichungsfrequenz der Wissenschaften ist noch langsamer als jene der Medien). Politische Organisationen und das Vereinswesen machten sich diese Perspektive zu eigen (oder positionierten sich zumindest in ihrem Umfeld), um Diskurse hervorzubringen oder ihre Handlungen zu legitimieren. Man könnte sagen, dass ab Ende 2018 unter unseren Augen eine „kollapsologische Bewegung“ geboren wurde, eine pluralistische Bewegung, die uns schließlich entglitt wie Frankenstein sein Monster (genau so war es!).

Zwar bleibt unser Fachausdruck Kollapsologie im Wesentlichen frankophon (in Frankreich ist das Wort 2020 in die Lexika aufgenommen worden). Doch die anderen Sprachen warteten unsere Bezeichnung nicht ab, um die Themen der globalen Bedrohung und der planetaren Katstrophengefahren zu behandeln. In anglophonen Ländern gibt es zum Beispiel zahlreiche Veröffentlichungen über disasters, collapse und existential risks sowie über weitere global catastrophic risks. Im Übrigen warnen Expertenberichte und Erklärungen internationaler Organisationen (IWF, UN, Weltbank usw.) ständig vor den lebensbedrohlichen Risiken, denen wir ausgesetzt sind; ebenso wurden 25 soziale Bewegungen wie Extinction Rebellion oder Deep Adaptation bewusst um die Frage des kommenden gesellschaftlichen Zusammenbruchs und der Risiken der Auslöschung herum gegründet. Eine IFOP-Umfrage unter 5.000 Personen in fünf Ländern (Frankreich, USA, Großbritannien, Italien und Deutschland) zeigte, dass das Bewusstsein eines möglichen kommenden Zusammenbruchs auf ähnlichem Niveau weitaus präsenter war, als man es sich vorgestellt hatte; mehr als die Hälfte der Befragten (außer in Deutschland, wo die Rate bei 39% lag) glaubt, die Zivilisation werde in den kommenden Jahren zusammenbrechen – und darunter meinen wiederum zwischen einem Drittel und der Hälfte, dies werde schon innerhalb der nächsten zwanzig Jahren geschehen.

Am 10. Dezember 2020 wurde in The Guardian und in Le Monde gleichzeitig eine Erklärung von 500 Wissenschaftler*innen aus 20 Ländern veröffentlich, in der die politischen Entscheidungsträger*innen des Planeten aufgefordert wurden, „die Diskussion über den Zusammenbruch der Gesellschaft zu eröffnen, damit wir damit anfangen können, uns darauf vorzubereiten.“

Heute sind wir als Autoren überrascht, aber doch zufrieden darüber, dass wir an diesem umfassenden Prozess der Bewusstseinsbildung und an der Geburt einer sozialen Bewegung teilhaben konnten. Als Erdenbewohner müssen wir jedoch zugeben, eher frustriert und beunruhigt darüber zu sein, dass dieses Buch sechs Jahre nach seinem Erscheinen noch immer eine derartige Aktualität besitzt.

Pablo Servigne und Raphaël Stevens im März 2021

Aus dem Französischen übersetzt von Lou Marin.

05.10.2022, 17:23

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