Systemische Ursachen

Vorwort Viele Menschen glauben, die Menschheit sei dem Untergang geweiht. Diese düsteren Zukunftsperspektive hat leider eine reale Grundlage. Seit Jahren häufen sich die Warnungen. Können wir einen Untergang noch abwenden? Ein Vorwort von Fabian Scheidler
Systemische Ursachen

Foto: Mauro Pimentel/AFP/Getty Images

Laut einer Umfrage unter 16- bis 25-Jährigen aus zehn Ländern glaubt die Hälfte der Befragten, die Menschheit sei dem Untergang geweiht. Diese düsteren Zukunftsperspektiven haben leider eine reale Grundlage. Seit Jahren häufen sich die Warnungen von führenden Erdsystemforscher*innen, dass ein gesellschaftlicher Kollaps schon in den nächsten Jahrzehnten ein9 treten könnte, wenn wir unsere Wirtschaftsweise nicht schnell und grundlegend änderten.

Die Gründe dafür sind im Prinzipseit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt: das größte Artensterben seit 65 Millionen Jahren, die Zerstörung fruchtbarer Böden durch industrielle Landwirtschaft und Flächenversiegelung, die Verknappung und Verschmutzung von Süßwasser, Ressourcenraubbau und das sich abzeichnende Klimachaos. Der Bericht an den Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972, sagte bei fortgesetztem business as usual einen Zusammenbruch der globalen Nahrungsmittelund Industrieproduktion noch vor Mitte des 21. Jahrhunderts voraus. Zahlreiche Neuberechnungen und Überprüfungen der Daten – zuletzt im Jahr 2021 – ergaben, dass die Prognosen beunruhigend genau mit der tatsächlichen Entwicklung korrespondieren.

Die Realität könnte diese Szenarien allerdings sogar überholen. Immer mehr Studien weisen darauf hin, dass wir möglicherweise im Klimasystem bereits kurz vor entscheidenden Kipppunkten stehen, darunter das Schmelzen der Eismassen Grönlands und der Westantarktis, der Zusammenbruch des Amazonas-Regenwaldes und das Abtauen der methanhaltigen

Permafrostböden. Werden diese Punkte überschritten, treten irreversible Kettenreaktionen in Gang, die die Erde in einen vollkommen neuen Zustand befördern könnten: die Heißzeit, das Hothouse Earth.

Die politischen Antworten auf diese Lage sind seit einem halben Jahrhundert vor allem von Verdrängung, Verschleppung und falschen Versprechungen geprägt. Trotz mittlerweile 26 UN-Klimakonferenzen und 15 Biodiversitätskonferenzen steigen die globalen Emissionen, während sich das Artensterben weiter beschleunigt. Anlässlich eines Klimagipfels, bei dem die Regierungschefs aus aller Welt zusammenkamen, formulierte es der damalige Vorsitzende des UN-Klimarats, Rajendra Pachauri, einmal so: „Um ehrlich zu sein: Niemand hier schenkt der Wissenschaft irgendeine Beachtung.“ Es gehört zu den bemerkenswerten Eigenheiten unserer vielbeschworenen Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft, dass sie ausgerechnet dann, wenn es ums Überleben geht, die relevantesten Informationen de facto ignoriert. Das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen hat es sogar abgelehnt, dem Thema Klima auch nur fünf Minuten jeden Abend zu widmen – anstelle der Börsennachrichten.

Dass wir zur besten Sendezeit Nachrichten über Aktienkurse zu sehen bekommen, aber nicht über die Realität unseres Planeten und unsere eigenen Überlebenschancen, deutet auf den strukturellen Kern des Problems hin. Denn die systemische Ursache der planetaren Krise liegt in der Dominanz eines Wirtschaftssystems begründet, dessen wesentlicher Zweck die endlose Vermehrung von Geld ist – und das deswegen auch immer weiter wachsen muss. Dieses Prinzip ist in den mächtigsten wirtschaftlichen Institutionen festgeschrieben. Kapitalgesellschaften etwa haben aufgrund ihrer rechtlichen Konstruktion nur einen einzigen Zweck: das Kapital der Anteilseigner zu mehren, koste es, was es wolle. Die 500 größten Kapitalgesellschaften kontrollieren heute zwei Drittel des Welthandels, ihre Bilanzsumme beläuft sich auf rund 40 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Sie sind der Motor der ökonomischen Expansion, die vor etwa 500 Jahren in Europa begann und nach Jahrhunderten der gewaltsamen Kolonisierung längst den gesamten Erdball umspannt.

Um diese Expansion fortsetzen zu können, muss die lebendige Welt in immer schnellerem Tempo in Waren verwandelt werden. Dies ist – in Verbindung mit der Nutzung fossiler Energien – die wesentliche Ursache dessen, was Erdsystemforscher*innen die „Große Beschleunigung“ nennen: die exponentielle Ausweitung der Güterproduktion, der Technik und der damit verbundenen ökologischen Zerstörung. Es ist das Erdzeitalter des Kapitalozäns.

Der moderne Staat hat in dieser Dynamik von Anfang an eine Schlüsselrolle gespielt. Fern davon, ein Gegengewicht zur Macht der Märkte zu sein, hat er die wesentlichen Institutionen des Kapitalismus selbst geschaffen. Heute werden die meisten der großen Konzerne, ob in der Auto- und Flugzeugbranche, dem Bankensektor oder der industriellen Landwirtschaft, durch staatliche Zuwendungen und Vergünstigungen künstlich am Leben erhalten. Der Internationale Währungsfonds beziffert die Subventionen allein für fossile Energien auf 5900 Milliarden Dollar pro Jahr. Die Steuerzahler*innen finanzieren also die Vernichtung ihrer eigenen Lebensgrundlagen. Wie bereits der französische Historiker Fernand Braudel bemerkte, ist der real existierende Kapitalismus kein echtes Marktsystem, sondern im Kern ein „Anti-Markt“, der auf der Verflechtung von Staaten und Großindustrien beruht.

Die Biosphärenkrise, in die uns dieses System geführt hat, wird zusätzlich von einer technokratischen Ideologie angeheizt, die die Natur zu einer verfügbaren Ressource in der Hand des Menschen degradiert. Die Vorstellung, dass die Natur nichts als eine große Maschine sei, die sich vollständig berechnen, steuern, zerlegen und neu zusammenbauen lasse, hat sich als einer der verhängnisvollsten Irrtümer der menschlichen Geschichte erwiesen. Der sich abzeichnende Kollaps zwingt uns daher, nicht nur Ökonomie und Politik ganz neu zu denken, sondern auch unser Verhältnis zu dem, was wir Natur nennen.

Grünes Wachstum, Ausstieg aus der Megamaschine oder Kollaps?

Von Befürworter*innen eines „grünen Kapitalismus“ wird immer wieder vorgebracht, dass sich die negativen Effekte endlosen Wachstums vermeiden ließen, wenn man die Geldvermehrung vom Ressourcenverbrauch „entkoppele“ – wenn man also für jeden erwirtschafteten Euro immer weniger Material und Energie verbrauche. Bis zu einem gewissen Punkt findet Entkopplung auch tatsächlich statt, und das bereits seit Beginn der Industrialisierung. Aber der größte Teil der dadurch erreichten Effizienzgewinne wird durch weiteres Wachstum aufgefressen. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte zeigt dies mehr als deutlich. Vollmundige Versprechungen eines „ressourcenleichten Wachstums“ durch Digitalisierung haben sich längst als Schall und Rauch erwiesen. Die rapide wachsende Menge von digitalen Geräten und Infrastrukturen und die von ihnen verschlungene Energie sind inzwischen eine der treibenden Kräfte der planetaren Verwüstung.

Es ist bemerkenswert, wie verbissen an der Idee ewigen Wachstums festgehalten wird, wo es doch eine viel einfachere Lösung gäbe: Umverteilung statt Wachstum. Denn die Welt krankt keineswegs an einem Mangel an Dingen. In den Ländern des Globalen Nordens ersticken wir geradezu in einer täglich weiter wachsenden Flut von Produkten, die in einem immer schnelleren Rhythmus weggeworfen und durch neue ersetzt werden, ob es Telefone sind, Computer, Kleidungsstücke, Spielzeuge oder Möbel. Diese groteske Überproduktion von Gütern ist der Kern der ökologischen Krise. Und ihre extrem ungleiche Verteilung die Wurzel der sozialen Misere. Statt 13 immer mehr herzustellen, ginge es also darum, die Überproduktion zu drosseln, Arbeitszeiten zu verkürzen und das Hergestellte gerechter zu verteilen. In einer solchen Perspektive wäre auch ein schneller Umstieg auf erneuerbare Energien wesentlich realistischer.

Genau hier aber kollidiert die einfachste und vernünftigste Lösung mit den mächtigsten Institutionen unserer Ökonomie. Wenn wir etwa, statt nur die Antriebsart von Autos auszutauschen, zusätzlich ihre Anzahl radikal reduzieren und kollektive Transportmittel nutzen würden; wenn wir, statt alle paar Jahre neue Möbel zu kaufen, Omas Schrank für den Rest unseres Lebens benutzten; wenn wir Telefone und Computer hätten, die modular aufgebaut und leicht reparierbar wären, sodass wir sie jahrzehntelang gebrauchen könnten: Dann wären das zwar gute Nachrichten für den Planeten; für die großen Player der Auto-, Möbel- und Telekommunikationsindustrie samt den mit ihnen verflochtenen Banken würde das aber das Ende ihres Geschäftsmodells bedeuten. Entsprechend hoch sind die politischen Hürden, ein solches Programm auch nur ins Auge zu fassen.

Die Logik der Rettung

Die Frage, ob wir einem Kollaps entgehen können, führt also letztlich zu der Frage, ob wir rechtzeitig unsere ökonomischen und politischen Institutionen so tiefgreifend umbauen können, dass wir entscheidende Kipppunkte im Erdsystem noch vermeiden können. Angesichts von fünf verschenkten Jahrzehnten und der Abwesenheit ernsthafter öffentlicher Debatten über einen solchen Tiefenumbau lautet die Antwort wohl: wahrscheinlich nicht. Wir sehen hier das typische Muster von scheiternden Zivilisationen: Strukturelle Probleme werden verdrängt; kurzfristige Partikularinteressen dominieren die Agenda; als Antwort auf Krisen wird mehr von dem, was die Krise verursacht hat, verordnet, zum Beispiel mehr Technik und mehr Markt; statt die Systemkomplexität zu reduzieren, wird sie mit jeder Krise erhöht, was das System noch anfälliger macht. Zivilisationen sind in der Regel unfähig, ihre eigenen Prämissen zu verändern. Sollte dies auch in unserem Fall zutreffen, so müssen wir uns darauf gefasst machen, dass kein planmäßiger, geregelter Übergang stattfindet (degrowth by design), sondern eine lange chaotische Phase, eine Kaskade von Krisen (degrowth by disaster) mit vollkommen offenem Ausgang.

Aber bedeutet dies, dass wir aufgeben und auf die Apokalypse warten müssen? Keineswegs. Zunächst einmal ist der Zerfall einer Zivilisation nicht zwingend mit dem Tod ihrer Mitglieder verbunden. Beim Niedergang des Weströmischen Reiches etwa zerfielen die großen Bürokratien und Militärapparate, auch ein Teil der Schriftkultur und des Wohlstandes der oberen Schichten, aber zugleich entstanden neue Freiräume: Die Sklaverei verschwand weitgehend aus Europa, die erdrückende Abgabenlast für die Bauern verringerte sich, der Kriegsführung waren in Ermangelung von Metallurgie und stehenden Heeren Grenzen gesetzt.

Heute allerdings sind die Gefahren des Übergangs ungleich größer als vor 1500 Jahren. Die Zerstörung lebenserhaltender Systeme ist ohne Beispiel in der menschlichen Geschichte. Zugleich leben wir in einer Welt mit 14.000 Atomsprengköpfen und etwa einer Milliarde Kleinwaffen. Der bevorstehende Übergang stellt die Menschheit also vor ganz neue Herausforderungen. Denn es gilt zum einen, die Zerstörungskräfte so weit als irgend möglich zu begrenzen und die Wucht des Aufpralls zu mindern; zum anderen geht es darum, neue Formen des Wirtschaftens und Lebens zu entwickeln, die den kommenden tiefgreifenden Veränderungen standhalten können und ein würdevolles Leben für alle ermöglichen.

Beide Formen des politischen Handelns – der Kampf gegen die destruktiven Kräfte und der Aufbau des Neuen – gehören untrennbar zusammen. Die Flucht in die Idylle des Ökodorfs kann zum trügerischen Eskapismus werden, wenn nicht zugleich Widerstand gegen zerstörerische Großprojekte organisiert wird, etwa gegen Ölförderung, Fracking, Großflughäfen und die zunehmende Militarisierung. Es wird manchmal gesagt, dies seien nur negative Abwehrkämpfe; aber sie schaffen überhaupt erst den Spielraum, in dem etwas Neues gedeihen kann. Jedes Zehntel Grad Erwärmung, das noch verhindert, jeder Krieg, der begrenzt werden kann, jede Milliarde an Euro und Dollar, die nicht in Rüstung und destruktive Industrien fließt, vergrößert diese Spielräume und vermindert menschliches Leid. Sich mit der Möglichkeit eines Kollapses auseinanderzusetzen, bedeutet also nicht, resigniert auf den Untergang zu warten, sondern einen neuen Realismus zu entwickeln, eine Logik der Rettung.

Zur Logik der Rettung gehört auch die Frage der globalen Verantwortung. Große Teile Indiens, des Mittleren Ostens und des afrikanischen Kontinents etwa drohen durch Dürren und Hitzewellen unbewohnbar zu werden, andere Erdteile fallen dem steigenden Meeresspiegel zum Opfer. Welche Rechte haben die Menschen, die ihre Heimat verlieren? Wo können sie sich ein neues Leben aufbauen? Wer zahlt die Schäden?

Die Industriestaaten, vor allem im Globalen Norden, weigern sich bisher hartnäckig, Verantwortung zu übernehmen, und schotten sich durch militarisierte Grenzen ab. Der Kampf in Zeiten des Klimachaos geht daher nicht zuletzt auch um eine neue internationale Rechtsordnung, die Verbrechen gegen den Planeten und seine Bewohner als Ökozid ahndet, die Rechte der Opfer stärkt und Lasten neu verteilt. Das System der Territorial- und Nationalstaaten, wie es sich in der Neuzeit entwickelte, wird angesichts untergehender Länder und hunderter Millionen von Klimaflüchtlingen selbst infrage gestellt. Auch an diesem Punkt fordert die Möglichkeit des Kollapses von uns nicht den Rückzug in die Ökonische, sondern im Gegenteil eine Neubelebung des Internationalismus.

Scheiternde Zivilisationen und die Kunst des Übergangs

Das Scheitern einer Zivilisation und der Übergang zu anderen Formen sozialer Organisation ist meistens ein langer und chaotischer Prozess, eine Kaskade von Krisen, die sich über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte erstreckt. In jeder Krise öffnen sich Weggabelungen, Bifurkationen. Die Richtung, die Gesellschaften in Krise A einschlagen, ist entscheidend dafür, welche Optionen in Krise B noch zur Verfügung stehen. Ein solcher chaotischer Übergang ist nicht planbar, das Neue kann nicht am Reißbrett entworfen und dann umgesetzt werden, es entsteht in den konkreten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

Es ist durchaus möglich, dass die Phase des Zusammenbruchs und Übergangs schon begonnen hat. Durch Extremwetterereignisse, Pandemie und Krieg häufen sich Versorgungsengpässe bei Industriegütern, Energie und Nahrungsmitteln, zum Teil auch in den reichen Ländern des Globalen Nordens. Die Preise steigen rapide.

Diese Erfahrungen zeigen auch, wie gefährlich die Verzahnung von Klimastress und globalisierten Agrarmärkten sein kann. Dass Millionen von Menschen in afrikanischen Ländern 17 zusätzlich hungern, weil Krieg und Sanktionen die Getreidepreise
in die Höhe treiben, sollte Anlass sein, unser derzeitiges Landwirtschaftssystem gründlich zu hinterfragen und zu verändern.

Ein warnendes Beispiel liefert die große Hungerkatastrophe in Indien im späten 19. Jahrhundert, bei der nach Schätzungen zwischen 12 und 30 Millionen Menschen starben. Damals hatte das Klimaphänomen El Niño die Niederschlagsmuster weltweit verändert, eine der Folgen waren schwere Dürren in Südasien. Doch die meisten Menschen in Indien starben nicht, weil es keinerlei Nahrungsmittel mehr gegeben hätte, sondern weil das indische Getreide von Spekulanten in Silos gehortet und schließlich nach England verschifft wurde, wo damit am meisten Geld zu verdienen war. Während an der Londoner Börse die Kassen klingelten, verendeten die Menschen im Angesicht der vollen Züge, die das Getreide von ihnen weg nach Europa transportierten, bewacht von der britischen Kolonialarmee.

Die gefährliche Übergangsphase, in die wir eingetreten sind, wirft daher grundsätzliche Fragen auf: Wer verfügt über Grund und Boden und seine Erzeugnisse? Die Menschen, die

ihn nutzen, oder die fernen Eigentümer, die damit Geld machen wollen? Wie werden, wenn der Planet ungastlicher wird und bewohnbare Naturräume schrumpfen, lebenswichtige Güter produziert und verteilt, lokal, regional, international? Wer hat welche Rechte worauf?

Die ökologische Krise stößt uns damit unweigerlich auf den Kern der kapitalistischen Ordnung: auf die Frage des Eigentums. In einem Prozess von Verknappung und notwendiger Umverteilung können die ärmeren Bevölkerungsteile es sich schlicht und einfach nicht mehr leisten, die Taschen von Anteilseignern zu füllen. Das gilt nicht allein auf dem Land, sondern auch in den Städten, wo durch steigende Mieten immer größere Teile der Einkommen auf die Konten der großen Immobilieneigentümer fließen. Die soziale und die ökologische Frage sind daher untrennbar miteinander verbunden. Oder, wie es in Frankreich heißt: „Fin du monde, fin du mois, même combat“ – „Das Ende der Welt, das Ende des Monats, der gleiche Kampf“.

Die chaotische Übergangsphase, in die wir uns hineinbewegen, bringt Gefühle der Ohnmacht, Verzweiflung und Angst hervor. Sie zu verdrängen, macht die Lage allerdings nur schlimmer. Stattdessen braucht es eine offene und breite Diskussion über die Gefahren eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs. Denn eine solche Diskussion kann überhaupt erst die Voraussetzungen für neue Formen kollektiven Handelns schaffen und den Raum des Vorstellbaren erweitern. Kollapsologie in diesem Sinne zu betreiben, meint eben nicht, sich als Prepper mit Konservendosen und Waffen in einem Bunker einzumauern, sondern im Gegenteil die „Epidemie der Einsamkeit“ zu überwinden, die westliche Gesellschaften heimgesucht hat, und sich wieder als politisches Wesen, als zoon politikon zu erkennen.

Das Verdienst des Buches von Pablo Servigne und Raphaël Stevens besteht darin, im französischen Sprachraum eine Debatte über die Möglichkeit eines Zerfalls der industriellen Zivilisation angestoßen zu haben. Diese Debatte wird – auch innerhalb der ökologisch-emanzipatorischen Strömungen – durchaus kontrovers geführt.23 Wo immer man sich dazu positionieren mag: umgehen lässt sie sich nicht mehr.

Fabian Scheidler, im Juli 2022

05.10.2022, 17:23

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