Mut zum Zorn

Leseprobe Was ist gut an Wut, an dem Feuerball im Inneren, der auch ein Motor für Veränderungen sein kann? Was sagt die Neurowissenschaft zu dem kraftvollen Gefühl und wie gelingt es, die damit einhergehende Energie zu beherrschen und sie für sich zu nutzen?
Wut, Zorn, Rage – häufig auch zu beobachten bei Fußballspielen aller Ligen.
Wut, Zorn, Rage – häufig auch zu beobachten bei Fußballspielen aller Ligen.

Foto: Mike Cooper/ALLSPORT

Einleitung

»Ich habe meine Wut genährt wie eine Wölfin ihr Junges, und ich habe Erleuchtung, Lachen, Schutz und Wärme gefunden, wo es kein Licht gab, keine Nahrung, keine Schwestern und keine Zuflucht. « – Audre Lorde

Nähern sich die Temperaturen im Sommer der 40-Grad-Marke, sodass Klimaanlagen ausfallen, der Asphalt dampft und einem auch im Schatten der Schweiß rinnt, liegt Gefahr in der Luft. Hitze strapaziert die Nerven. Wut kocht schneller in uns hoch. Psychologen nennen dieses Phänomen die »Temperatur-Aggressions-Hypothese«, an solchen Hundstagen rasten die Menschen rasch aus: kühler Drink die Gemüter an heißen Tagen beruhigen kann – oder eben ein Eis.Autofahrer hauen häufiger auf die Hupe, Familienstreits eskalieren, Gewaltverbrechen nehmen zu, wie Forscher herausfanden. Wissenschaftlich belegt ist auch, dass ein

So scheint es nur logisch, dass es auch der bis dato heißeste Sommer der Wetteraufzeichnung war, als ich lernte, wie süß die Sünde schmeckt. Genauer gesagt, die Todsünde. Von Freiburg bis zum Elbstrand wurden die Hitzerekorde gebrochen, mancherorts zeigten die Thermometer mehr als 40 Grad, im Jahrhundertsommer 2003. Ich fand die Sünde damals in der Tiefkühltruhe neben der Kasse im Supermarkt: Die Eiscreme-Marke Magnum hatte eine limitierte Sonderkollektion auf den Markt gebracht, die »7 Sünden«. Jede der sieben Todsünden, die im christlichen Glauben auch Wurzelsünden genannt werden, da ihnen alle anderen Vergehen der Menschheit entspringen – so wie aus einer Nuss ein ganzer Wald wuchern kann – fand seine Entsprechung in klassischer Magnum-Ellipse am Stiel: Der Neid bestand aus grüner Eiscreme, die Völlerei aus Schokoladeneis, überzogen mit noch mehr weißer Schokolade, die Habgier erschien in Form einer goldenen Tiramisu-Eiscreme mit Amaretti-Stückchen. Karamellcreme durchzog die Faulheit, die Wollust lockte mit einer pinken Hülle aus Erdbeerschokolade, und silberne Kügelchen im Champagner-Überguss schmückten das Eitelkeit-Eis.

Ich war dreizehn Jahre alt und bis dahin tauchte das Konzept der Sünde in meinem Leben kaum auf. Das erschien mir Stoff für strenge Erzieher in alten Kinderbüchern oder düstere Psychothriller zu sein, die nach 22 Uhr im Fernsehen liefen. Gebeichtet hatte ich nur einmal, gezwungenermaßen, im Kommunionsunterricht. Ob ich die Hölle fürchtete oder aus dem Kommunionsunterricht geworfen zu werden, weiß ich nicht mehr – doch ich war überzeugt, das Sündigen etwas Schlimmes war und eine Strafe verdiente.

Dem widersprachen diese fantastischen Eissorten, wie nicht von dieser Welt, und dazu die bildschönen Models, die in den Werbespots leidenschaftlich ihr Spiegelbild küssten oder sich durch eine ganze Festtafel futterten, bevor sie lächelnd in ihre hochkalorische Sünde bissen. Die »7 Sünden« waren bis dato eine der kostspieligsten Kampagnen, wurden aber ein großer Erfolg für Unilever. Begleitet von Werbespots und Radiowerbung erschienen die lasterhaften Sorten eine nach der anderen, von Frühjahr bis Oktober, und steigerten die Verkäufe allein in Großbritannien um 17 Prozent, auch in Australien stiegen die Sales. Besonders häufig griffen die Kunden spontan nach einem verruchten Eis. Anscheinend verkauft sich die Sünde hervorragend, sin sells.

Aber war das nicht irgendwie Gotteslästerung? Ängstigten sich die Menschen nicht mehr vor der Strafe des Herrn, dem Tag des Jüngsten Gerichts, vor dem ewigen Schmoren in der Hölle, sodass die Sünde nur noch zur Süßigkeit taugte? Zumindest einige Kirchenvertreter waren darüber entsetzt, dass die Hauptlaster der Menschheit nun zwischen Tiefkühlpizza und Kaisergemüse ruhten. Gegenüber der Nachrichtenagentur AFP schimpfte Michael Stahl, damals Pressereferent der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, man dürfe die Todsünden nicht »durch den Kakao ziehen«. Andere wollten sich gar nicht erst äußern, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf die Eis-Blasphemie zu lenken. Kaum einer schien bemerkt zu haben, dass eine Todsünde bis zur Unkenntlichkeit gezähmt und verschönert worden war. Wo blieb das blutrote Chili-Eis, überzogen mit Bitterschokolade und rotem Pfeffer? Wo war sie, »Ira«, die Wut oder der Zorn? Im Kühlregal schrumpfte sie zur Rache. Die zählte besonders für die alten Griechen als elementarer Teil des Zorns, doch bleibt offen, ob die Homer und Aristoteles im Sinne hatten, als sie die brachiale Wut zur eleganten Rache umstylten.

Rache ist sexy und clever und ist drum ein beliebtes Motiv in Filmen und Büchern, etwa in Alexandre Dumas berühmtem Abenteuerroman »Der Graf von Montechristo« von 1846. Mit kühlem Kopf plant der Rächer seine Schritte, und auch wenn sich die Zuschauer einig sind, dass sein Grollmöglicherweise übertrieben scheint – Kiddo, die Braut in Quentin Tarantinos Kult-Rachefilm »Kill Bill« hätte wohl auf das ein oder andere Blutbad verzichten können auf der Jagd nach ihren Peinigern – so wohnt der ersehnten Vergeltung doch prinzipiell eine Rechtmäßigkeit inne.

Im Werbespot für das »Rache«-Eis von Magnum ist ein attraktiver Mann im roten Anzug an eine Zielscheibe gekettet, eine schöne Frau mit rotem Haar wirft mit Messern auf ihn. Allerdings ist sie eine talentierte Messerwerferin, ihre Klingen rahmen die Silhouette des jungen Mannes kunstvoll ein. Man kann in seinem Gesicht ablesen, dass seine Gegnerin ihn mit ihrer Werferei eher anturnt als um sein Leben bangen lässt. Dann leuchten ihre Augen rot, man fürchtet kurz, sie würde ihm nun doch den Todesstoß versetzten. Doch dann beißt sie lächelnd in ihr Eis. Das ist zumindest mit roter Fruchtsoße durchzogen, die Farbe passt also. Wie sähe die Szene wohl aus, wenn sie wirklich der Zorn gepackt hätte? Müsste sie nicht eigentlich ihre Zähne fletschen, die Stirn stark runzeln? Ihre hübschen Züge überhaupt zu einer Grimasse verziehen, mit rotem Kopf, in dem das Blut pulsiert, sodass die Adern hervortreten? In ihrem Körper würde Adrenalin durch die Blutbahnen rauschen, der Blutdruck stiege in die Höhe, in ihrem Gehirn zündete ein Feuerwerk, die Muskeln machten sich bereit. Ihre Messer bräuchte sie nicht mehr, denn sie könnte ihr Opfer mit bloßen Händen erwürgen. Sie wäre »ganz Erregung und Drang, rasend vor unbändigem Verlangen nach Schmerzen, Waffen, Blut«.

Schön ist das nicht, das befand nicht erst die Marketingabteilung von Magnum, sondern schon der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca in seiner berühmten Schrift »De Ira« vor fast zweitausend Jahren, aus der diese Worte entnommen sind. »De Ira« wurde sowohl mit »Über die Wut« wie auch mit »Über den Zorn« übersetzt. Wut und Zorn treten als Zwillinge auf, sie auseinanderzuhalten ist nicht immer leicht, doch es lässt sich sogar behaupten, dass die Wut, wie wir sie heute kennen, aus dem Zorn der Antike geboren wurde. Senecas Tirade ist eine der berühmtesten und ältesten Schriften, doch keineswegs das einzige Zeugnis, das der Wut gewidmet ist – über die Jahrtausende sinnierten die weisen Männer und Frauen von Homer bis zu den Sex Pistols immer wieder über dieses mächtige Gefühl: Was ist die Wut, und wie ist mit ihr zu verfahren? Ist sie Sünde, Dämonenfeuer, das alles zerstört, was ihm in die Quere kommt, und somit ausgemerzt gehört? Oder kann sie mehr sein, Wasser auf den Mühlen unseres Lebens, Treibstoff für den Motor der Veränderung, vielleicht sogar Energie, die man nutzen kann?

Um solche Fragen soll es in diesem Buch gehen. Mittlerweile haben sich auch Naturwissenschaftler, Psychologen und Gehirnforscher auf die Spur dieser inneren Kraft begeben. Wut ist auch eine körperliche Reaktion auf Bedrohung und somit überlebenswichtig.

Im modernen Alltag kämpft man freilich seltener gegen wilde Tiere. Dennoch gibt es jeden Tag tausend Gründe, wütend zu werden: In der Zeitung stehen Nachrichten über korrupte Politiker und kaputtgesparte Schulen, wir stecken im Stau, auf der Rückbank kreischen die Kinder, der Vorgesetzte stiehlt unsere Ideen und die Kollegin quatscht zu viel, das Finanzamt fordert unhöflich eine Nachzahlung, während Großkonzerne in der EU keinen Cent Steuern zahlen. Das Auto wird abgeschleppt, der Partner nervt, und dann vergisst der Kellner im Restaurant auch noch unsere Spaghetti. Irgendwann sieht man rot, kocht über, rastet aus. Auch wenn man es nicht will.

Das man selbst der alleinige Regisseur seines Schicksals sein sollte, passt gut in die Selbstoptimierungsmentalität des 21. Jahrhundert. Das Leben von Wut beherrschen zu lassen, das tun nur Affengeister, schreibt etwa der Podcaster Jay Shetty in seinem Ratgeber »Das Think Like a Monk-Prinzip«. Mit seinen Tipps und Tricks ließe sich die Energie beherrschen. Millionen Menschen verzehren sich nach solchen Geheimnissen, davon zeugt nicht nur, dass Shettys Buch auf den Bestsellerlisten der New York Times und des Spiegels landete, sondern auch die Flut von Selbsthilfe-Büchern, Videos und Seminaren, die erklären wollen, wie man stets gelassen bleibt und die Wut loswird.

Doch lauert in dieser Welt nicht auch Gefahr? Wie viel Wut ist Wille, und was ist ein natürlicher Aspekt der Conditio humana? Was richtet die Wut im Körper an, wenn sie immer wieder heruntergeschluckt wird? Ergebnisse von medizinischen Studien zeigen, dass sich unterdrückter Ärger negativ auf die Gesundheit niederschlägt. Und einige Psychologen fürchten, dieses zwanghaft-zufriedene Klima beschwöre in der Gesellschaft erst recht Eskalation und Gewalt herauf – das Ergebnis seien Männer und Frauen, die ihre Wut nie herausließen und dann plötzlich auf ihre Mitmenschen losgingen.

Doch im Gegenteil, sollten wir nicht alle viel wütender sein? Dem Kampf für Gerechtigkeit hat das Meditieren bislang wohl wenig genützt. Die Umweltaktivistin Greta Thunberg hat vor der UN-Klimakonvention nicht zur Ruhe und Geduld aufgerufen, um den Planeten zu retten, sondern keifte mit wutverzerrter Miene, dass sie den Erwachsenen nie verzeihen würde. »Der Zorn verjagt seit Jahrtausenden Diktatoren und seit Jahrtausenden werden vom Zorn die Völker in den Abgrund gestürzt«, schrieb der Schriftsteller Thomas Bernhard. Auch in der Politik in Europa erlebt der Zorn in den vergangenen Jahrzehnten eine ungeahnte Renaissance. Wie viel Wut muss hinter Revolutionen stecken, ist das Wüten für die gerechte Sache nicht auch eine Tugend? Diese Fragen zu wünschenswerten Aspekten der Wut sollen in diesem Buch beleuchtet werden, um dieser verteufelten Kraft auf die Spur zu kommen.

21.04.2022, 08:21

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