„Mein Körper reicht mir nicht aus“

Interview Die Schauspielerin Sesede Terziyan spielte schon in „Berlin Oranienplatz“ von Hakan Savaş Mican. Auch im zweiten Teil der Stadt-Trilogie ist sie wieder Teil des Ensembles. Im Interview spricht sie über das Theater
Die Schauspielerin Sesede Terziyan.
Die Schauspielerin Sesede Terziyan.

Foto: Esra Rotthoff

Arno Widmann: Ich frage Sie in der Rolle als ältere Dame…

Sesede Terziyan: Bin ich da jetzt angekommen?

Sie haben ja noch ganz altmodisch Schauspielerei gelernt. Also Rollen und Einfühlung. Darauf will ich zu sprechen kommen. Aber zunächst: Wie kamen Sie auf die Idee, Schauspielerin zu werden?

Es war in der elften Klasse, ich war 16 Jahre alt. Es war im Kunstunterricht. Ich zeichnete ganz konzentriert meine Hände. Mein Lehrer kam zu mir und fand gut, wie ich das machte. Ich war selbst überrascht, wie mir das Zeichnen gelang. Wir hatten dann ein langes Gespräch. »Ich bin nicht«, erklärte ich ihm, »was ich zu sein scheine. Mein Körper ist ein Kerker. Er reicht mir nicht aus.« Ich weiß nicht, warum ich in diesem Moment mit dem Lehrer darüber sprach. Ich hatte noch nie mit irgendjemandem darüber gesprochen. Nicht mal mit mir selbst.

Sie sprachen über die Zeichnung. Von dort aus konnten Sie über sich sprechen. Der Körper ist ein wunderbares, lebendiges Werkzeug.

Wir können uns zeichnen. Wir können tanzen, singen. Wir können uns sehen, riechen, schmecken. Wir können uns ausdrücken. Wir können unseren Körper erkennen. Wir können arbeiten mit ihm. Das erschien mir großartig. In diesem Gespräch und im Nachdenken darüber wurde mir das klar.

Auch, dass man sich in ihm verstecken kann?

Ja.

Wie ging es von dieser Zeichenstunde zum Theater?

Es war so viel Energie in mir. Die wollte raus. Die musste sich ausdrücken. In BACKNANG gab es eine Clownsschule, EADS Nögge-Atelier-Theater. Dort fing ich an. Ich riss Eintrittskarten ab, arbeitete an der Bar, im Betriebsbüro. Frieder Nögge, ein berühmter Clown damals, hatte es gemeinsam mit Nina Haun gegründet. Ich war hingegangen für ein dreiwöchiges Praktikum, blieb dann drei Jahre dort. Mir tat das sehr gut.

Warum?

Ich komme aus einer strengen Familie. Bei meinen Eltern – sie hatten als Armenier in der Türkei gelebt – galt: Auf keinen Fall auffallen. Zuhause reden wir über alles. Draußen passen wir auf. Du musst fünfmal so gut sein wie die anderen.

Es ging um Kontrolle?

Vor allem um Selbstkontrolle. Mein Vater sagte: »Du musst jedes Wort überprüfen. Jedes Wort, das Du sagst und jedes Wort, das man Dir sagt. Nimm nichts einfach an. Mache Dir Deine Gedanken.« So redete er schon mit mir, als ich ein Kind war. Es war anstrengend. Klug, aber doch auch einengend. Das spielerische Zusammensein am Theater war für mich ein Aufatmen.

Ihre Eltern waren dagegen?

Nein, überhaupt nicht. Meine Eltern haben das Künstlerische immer unterstützt. »Das bringt Dich weiter«, sagten sie. Sie förderten mich, wo sie konnten. Als ich Klarinette lernen wollte, bekam ich eine: »Es ist schön, ein Instrument spielen zu können. Jeder Mensch sollte mindestens ein Instrument spielen«, erklärten sie. Wie kam ich ans Theater, war Ihre Frage. Ich entdeckte es als einen Raum, in dem ich mich selbst ausdrücken konnte.

Und die Schule?

Schrecklich. Die Welt eingeteilt in einzelne Fächer. Alle 45 Minuten eine neue Schublade. Unerträglich. Mein ganzer Körper revoltierte dagegen, wusste aber nicht, was er wollte und mein Kopf wusste es auch nicht. Im Theater dagegen wurde gespielt, man war ganz und wo man es nicht war, war man auf der Suche danach. Dort konnte ich mich ausprobieren. Großartig. Ich blieb dort bis zum Abitur. Daneben hatte ich Praktika gemacht: am Stuttgarter Theater, bei den Ludwigsburger Festspielen usw.

Und daneben die Schule?

Ohne das Theater hätte ich die nicht geschafft. Ich war auch in einer Literatur-AG. Da saßen wir zu dritt und lasen Fontane. Toll. Auch der Schulchor. Aber der normale Schulbetrieb? Nein. Aber ich hatte auch dort Glück. Es kamen immer wieder zum richtigen Augenblick die richtigen Lehrer, die mich bestätigten in meinen Interessen und Desinteressen. Die brachten mich voran. Manchmal war es nur ein Satz.

Zum Beispiel?

Im Betriebsbüro der Clown-Schule arbeitete ich mit Nina Haun. Die sagte eines Tages zu mir: »Sesede, Du musst raus aus dem Büro, rauf auf die Bühne!« Diesen Satz hatte ich gebraucht. Ich war die ganze Zeit im Theater ums Theater herumgeschlichen. Ohne Nina Haun – wer weiß, wie lange ich das noch getan hätte. Sie ist heute eine sehr erfolgreiche Casterin!

Sie machten damals schon Praktika?

In Stuttgart hatte ich eine Regiehospitanz bei Samuel Weiss. Sein Assistent war Kevin Rittberger, ein heute sehr erfolgreicher Autor von Bühnenstücken. So kam ich ins Theater. Ich bewarb mich bei der Ernst-Busch-Hochschule. Einfach so. Ich dachte: Wenn’s klappt, klappt’s. Wenn nicht, gehe ich erst einmal nach Nepal. Ich hatte eine Theologin kennengelernt, die dort eine Lepra-Station gegründet hatte. Wenn ich was mache, mache ich es möglichst gut. Wenn das daneben geht, mache ich etwas anderes und mache auch das möglichst gut. So wie mir das meine Eltern beigebracht haben.

Sie wurden an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin angenommen. Wie war es da?

Ich wollte und sollte ja Schauspielerin werden. Aber ich geriet in die Veranstaltungen von Wolfgang Engler. Mit einem Male fand ich »Kultursoziologie« viel spannender als die Schauspielerei. Dann aber packte mich wieder das Theater. Ich lernte, was ein Text ist. Ich lernte, ihn in meinen Körper aufzunehmen. Über seinen Rhythmus, über die Diktion. Ich lernte einen Text Ebene für Ebene und nach und nach zu verstehen und ich lernte, wie ich das alles, was ich nacheinander erfasst hatte, in einem Moment wieder hervorbringen konnte. Als etwas Begriffenes, Verstandenes, Erfühltes.

Der Text war der Ausgangspunkt?

Die Vielstimmigkeit des Textes. An der Busch ging es niemals darum, was ich angesichts eines Textes empfinde. Das war völlig uninteressant. Es ging darum, welche Empfindungen der Text selbst artikuliert. Wie produziert ein Text durch seinen Rhythmus welche Bilder, welche Gedanken? Ich lernte von großartigen Lehrer*innen ganz unterschiedliche Wege, mich einer Figur, einem Gedanken anzunähern. Wie sprechen die Menschen in den Texten? Wie bewegen sie sich in Räumen? Wir lasen Norbert Elias über die »Höfische Gesellschaft«. Nicht nur um das klassische europäische Theater zu begreifen, sondern auch um zu verstehen, dass die Welt, in der wir leben, nicht natürlich so ist, wie sie ist. Sie ist aus anderen Zuständen hervorgegangen und sie wird zu anderen übergehen. Wir lernten sehr viel und sehr Unterschiedliches an der Ernst-Busch.

Danach kam die langweilige Normalität des Theaters?

Es war und es ist sehr aufregend. Zum Beispiel als ich am Deutschen Theater in Göttingen in Arthur Millers Hexenjagd anfing, erklärte eine Kollegin, sie müsse mit heruntergelassener Strumpfhose probieren, um sich ihrer Figur annähern zu können. Ich fand das völlig absurd. »Ich brauche das«, sagte sie mit den Strumpfhosen unter ihren Knien. Interessant, dachte ich. Es gibt viele Wege nach Rom. Das war ein Weg, den ich an der Busch nicht gelernt hatte. Der Ansatz dort war: Geh erst einmal in Deinen Text. Was ist der Gedanke? Worum geht es? Wie wird es gesagt? Was wird verschwiegen? An der Busch war hier ich und dort war der Text. Es ging nicht darum, dass der Text mir näher kam, sondern ich musste mich dem Text nähern.

Es ging um große Rollen, um große Texte?

Es ging um gute Texte. Die zeichnen sich durch ihre Vielschichtigkeit aus. Man kann immer Neues darin entdecken. Das sind Texte, die werden auch noch, wenn ich längst so alt sein werde wie Sie, taufrisch sein. Es gibt Texte, die wachsen mit mir. Ich beiße sie, schlucke sie runter, würge sie wieder hoch, schmecke nach, fange wieder an. Ein guter Text entführt mich. In mir bis dahin unbekannte Höhen und Tiefen.

Zum Beispiel?

Ich habe den Faust wieder neu entdeckt. Das ist ja hochspirituell. Da ist das Wissen und darin das Geheimwissen und darin nochmal eines. Und so geht es weiter. Aber ich genieße natürlich auch das Versmaß. Die Pausen und die Stille darin. Ich entdecke immer wieder neue Qualitäten darin. So mit Texten umgehen zu können, verdanke ich meinem Studium.

Erinnern Sie sich an Momente darin?

An sehr, sehr viele. Aber mir fällt gerade meine Sprecherzieherin Monika Schneider ein. Ich hatte Angst vor ihr. Egal, wie gut ich vorbereitet war, ich war nie gut genug. Sobald sie mit mir auf der Bühne stand, wurde sie zu so einem Koloss! Sie hörte immer, wenn ich mogelte, wenn ich zum Beispiel schön sprach, weil ich nicht genau verstanden hatte, worum es ging. Sie spürte immer, wenn ich nicht dachte, was ich sagte. Sie sah es, sie hörte es. Ich habe viel von ihr gelernt.

Sie standen dabei immer einander gegenüber?

Quatsch. Ich rezitierte Schiller und rannte dabei auf der Bühne herum, spielte mit einem Ball oder hüpfte wie ein Frosch. So trainierte ich Muskulatur und Ausdauer, lernte, die Stimme unten zu halten. Es gab zig Übungen und immer war der ganze Körper involviert. Vieles wurde auch aufgenommen. Ich lernte mich selbst zu hören und zu sehen – und zu kontrollieren.

Ich kann mich nicht hören und schon gar nicht sehen. Ich schaue nicht in den Spiegel, wenn ich mich rasiere. Es wird mir sehr schwer fallen, dieses Interview abzutippen. Ich mag meine Stimme nicht hören. Ich bewundere Menschen, die sich in Ruhe betrachten und sagen können: Das ist gut, das ist nicht so gut. Hier sollte ich das, hier jenes machen. Ich bin immer einfach nur entsetzt. Das ist ein Abgrund von Eitelkeit.

Darum sind Sie nicht Schauspieler geworden. Ich mache mich zum Objekt meiner Arbeit. Ich bin ja auch – bürokratisch formuliert – »weisungsgebunden«. Ich muss mich beobachten, mich kontrollieren und korrigieren können. Theaterspielen heißt ausprobieren. Jedes Wort, jeden Schritt. Wem das keinen Spaß macht, der ist verloren in diesem Beruf. Schauen Sie einmal in den Spiegel und versuchen überrascht, erstaunt oder verliebt zu gucken. Das wird eine Karikatur werden. Wenn Sie das verbessern wollen, werden Sie nicht mehr sich selbst sehen, sondern Ihren Ausdruck überprüfen.

Frau Terziyan, Sie coachen mich! Vielen Dank.

Ein wenig Lebenshilfe in Spielfreude. Die Lust am Ausprobieren. Immer wieder Texte auf Situation und Gedanken neu zu überprüfen, versuchen, den Gedanken schmal und konkret zu bekommen. Das Wort »irgendwie« kommt viel zu oft vor. An der »Ernst Busch« hieß es: »Irgendwie gibt es nicht. Irgendwie brauchen wir nicht.« Niemand braucht irgendwie.

In den Proben stoßen die Vorstellungen der Einzelnen aufeinander.

Das ist das Schöne am Theater. Wir überraschen einander. Aber das geht nur, wenn ich vorbereitet bin. Ich muss meinen Text können, um frei genug zu sein, um auf Impulse der anderen reagieren zu können. Es muss eine bestimmte Basis da sein, um spielen zu können.

Zuletzt sah ich Sie in Marta Górnickas großartigem Stück Still Life, einem Chor für Tiere, Menschen und alle anderen Lebewesen. Da habe ich von all dem, worüber Sie sprechen, nichts bemerkt.

Wie bitte? Sie sind taub, blind und verrückt. Chorische Arbeit ist die Königsklasse. In Still Life geht es nicht um einzelne Individuen mit ihren ganz eigenen Biographien. Da haben Sie recht. In Still Life geht es darum, dass acht Personen, die ja alle Individuen sind, einen gemeinsamen Atem finden.

Ein Beispiel?

»Wir Deutsche«, lautet ein Satz im Stück, »haben das Recht, unsere Erinnerung wiederzugewinnen.« Wie sagt man diesen Satz? Was wird betont? Was bewirken rhythmische Verschiebungen? Welche Bedeutungen machen sie sichtbar? Man muss das ausprobieren, man muss sich ganz auf den Text und seinen Rhythmus einlassen. Man muss das richtig trainieren – wie Sportler es tun mit Geduld und Disziplin – sonst wird aus den Einzelnen kein Chor, kein gemeinsamer Körper. Erst dann kann man eine Vogelperspektive einnehmen und beginnt, das Ganze zu sehen. Man erkennt: Es gibt eine Gesetzmäßigkeit, in der ich mich bewege. Wenn ich diesen Rahmen verlasse, bricht alles zusammen. Es gibt keine Haupt- und Nebenrollen. Jeder von uns ist gleich wichtig. Dafür eine Wahrnehmung zu entwickeln, das in den Körper zu bekommen, das auch aushalten zu können – das schaffe ich nur, weil ich so viel gelernt habe von all dem, das Sie hier nicht sehen. Es mag darin verschwinden. Aber das kann es nur, wenn es da ist.

Darum nennen Sie den Chor die Königsklasse?

Der Chor ist ein kollektives Bewusstsein, das das unterschiedliche Wissen der Einzelnen – in Still Life der einzelnen Spezies – wie ein Monster in sich aufnimmt und wiedergibt. Das steht erst einmal übermächtig im Raum. Dieses Monster bewegt sich mal in die eine, mal in die andere Richtung. Mit jeder Bewegung nimmt es Neues auf und gibt Neues wieder. Es verschlingt alles. Die ganze Welt. Aber es ist ein Chor, Theater. Die Zuschauer mögen draußen die Erfahrung machen, dass sie und ihr Wissen verschlungen werden. Von den Monstern draußen. Hier aber werden sie nicht verschlungen. Hier wird ihnen etwas gezeigt. In diesem Spiegel können sie sich sehen. Sie können ihn benutzen, um sich zu korrigieren.

An der Schauspielschule haben Sie Rollen studiert: Nora, Gretchen, Blanche, Penthesilea usw. Beim Vorsprechen zeigten Sie, dass Sie diese Rollen beherrschen. Das Theater hat sich von diesen Rollen weitgehend entfernt. Haben Sie da nicht etwas gelernt, das inzwischen überholt ist?

Das eine schließt das andere nicht aus. Hier am Maxim Gorki Theater lieben wir erst einmal, Geschichten zu erzählen, die woanders nicht erzählt werden. Erzählen wir aber bereits bekannte Geschichten, dann nehmen wir sie gerne auseinander, um Seiten sichtbar zu machen, die, spielt man sie einfach so weiter wie bisher, unsichtbar bleiben. Wir nehmen auch einzelne Figuren auseinander, setzen sie neu zusammen. Wir stellen sie in neue Kontexte. Wir machen es uns also nicht leicht.

Nützt Ihnen Ihr Wissen oder steht es Ihnen im Wege?

Ich bin ganz sicher, dass es mir nützt. Allerdings: Ich bin keine Anfängerin mehr. Wäre ich das, ich käme wahrscheinlich sehr ins Schwimmen. Als junge Schauspielerin wollte ich alle Rollen spielen, wollte meine Weiblichkeit entdecken. Das ist so wichtig. Aber auch der Weg ist wichtig: das Individuum, das Psychologische, die Emotion, die Einfühlung, der Hunger nach Selbstausdruck – das muss man alles erlebt und gemacht haben, um dann sagen zu können: Jetzt gehe ich in die Vogelperspektive. Ich verabschiede mich vom Ich. Das ist schließlich so oft immer wieder neu durchgekaut worden. Welchen Nährwert hat es heute noch für das Theater?

Darum Still Life?

Der »Chor der toten Tiere«, der große Gott der Transformation kommt und schaut sich die Welt an. Wir stehen dabei im Chor und erzählen von der Transformation, sind aber – für alle sichtbar – abhängig vom Dirigenten. Ohne den Chorführer fiele diese neu geschaffene Individualität, der Chor, wieder auseinander. Die kollektive Masse kommt ohne Führer nicht aus. Ein Widerspruch. Wir machen ihn sichtbar. Wir zeigen, wir verkörpern ihn. Wir, die vielen, die ein Körper und ein Text sind, stehen auf der Bühne, im Saal steht Marta Górnicka allein und dirigiert uns. Als wären wir Marionetten an ihren Fingern. Es gibt Stellen, da bin ich, da sind wir, freier und es gibt Stellen, da brauche ich, da brauchen wir sie hundertprozentig, sonst würde alles zusammenfallen. Gleichzeitig reden wir von Transformation, von Befreiung. Dieser Widerspruch hört nicht auf, mich zu beschäftigen.

Wir alle leben in ihm.

Wir sind die Summe unserer Geschichten, unserer Informationen, unserer Wahrnehmungen. Wir sind immer zusammen mit anderen. Wir bewegen uns in einer Masse. Jeder in seinem Körper. Aber wir bewegen uns gemeinsam. In Masse und Macht schreibt Elias Canetti: »Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten.« Während der Arbeit an Still Life habe ich Canettis Seiten über den Dirigenten genau gelesen, ich habe sie mir eingeprägt: »Während des Spiels ist der Dirigent für die Menge im Saal ein Führer.« Die Musiker haben nur ihre Stimmen, der Dirigent dagegen die ganze Partitur. »Dass er auf alle zusammen achtet, gibt ihm das Ansehen der Allgegenwärtigkeit. Er ist sozusagen in jedermanns Kopf... Da während der Aufführung die Welt aus nichts anderem bestehen soll als aus dem Werk, ist er genau so lange der Herrscher der Welt«.

Was hat das mit Still Life zu tun?

Wir sind auch in den Vorstellungen sehr fokussiert auf Marta Górnicka. Das ist anders als sonst im Theater. Hier sind wir wie ein Orchester. Es sind fünfundfünfzig sehr anstrengende Minuten.Ich bin fertig danach. Aber es ist doch auch großartig, dass nicht jeder seine eigene Geschichte erzählen muss, dass es das gar nicht braucht, damit wir zusammenfinden. Wir treffen uns in etwas Neuem. Das ist auch eine Befreiung. Acht Menschen stehen da, wiederholen fünf Minuten lang immer wieder dieselben Sätze, in wechselnden Rhythmen – das ist wie ein Trip. Mich treibt das in ganz andere Wahrnehmungsfelder.

Dass Sie getrieben werden ist eine Befreiung?

Ja, es ist eine Befreiung von der Geschichte, vom Selbst. Aber das ist ja gerade auch keine Befreiung, denn die müsste ja eine des Selbsts sein. Oder. Ein Riesenthema, eine gigantische Frage. Wir können sie nicht beantworten, aber wir können sie aufwerfen und noch einmal aufwerfen und wieder aufwerfen. Jedes Mal etwas anders. Was ist eine freie Entscheidung? Aber das ist ja ein ganz anderes Thema.

Es ist eines der zentralen Themen des Theaters. Sowohl bei den Stücken, die Charaktere zeigen, die versuchen sich zu befreien – Die Räuber, Nora, Galilei etc. etc. –, als auch unsere Versuche, uns von diesen Stücken zu befreien, indem wir sie und ihre Charaktere zerlegen. Immer geht es um die Freiheit, die wir uns nehmen.

Wir stehen ja heute auf allen Ebenen vor etwas Neuem, das wir noch nicht erkennen. Wir analysieren das Alte, nehmen es auseinander in der Hoffnung dadurch einen Blick werfen zu können, auf das Neue, das entsteht aus der Zerschlagung der gewohnten Konstruktionen – gesellschaftlicher oder auch persönlicher –, deren Bausteine gerade dabei sind, neu zusammengesetzt zu werden. Werde ich immer weiter Theater spielen? Oder werde ich irgendwann etwas Neues machen?

Zum Beispiel nicht mehr fremde Texte in sich hineinfressen. Stattdessen: Eigene aufführen?

Das mit den fremden Texten, das stimmt. Vielleicht gehe ich darum nicht mehr so viel ins Theater oder ins Kino, vielleicht bin ich darum jetzt lieber mehr allein, weil ich spüre, wie diese fremden Charaktere, diese fremden Rhythmen Besitz von mir ergreifen. So schön sie sein mögen, sie sind Körperfresser. Aber selbst schreiben? Ich wüsste gar nicht, wie ich das machen sollte. Ich habe zuhause stundenlange Tonbandaufnahmen von Gesprächen mit meinen Tanten und Großtanten, die mir ihre Lebensgeschichten erzählten. Großartiges Material. Aber ich weiß nicht, wie ich ihm eine Struktur geben könnte. Worauf soll es hinauslaufen?

Wenn Sie jetzt Kleists Penthesilea spielten, wäre das nicht auch ein Trip?

Lustig, dass Sie mit Penthesilea kommen. Während des Studiums hatte ich mir einmal die Penthesilea für ein Vorsprechen ausgesucht. Ich packte die Wut aller Frauen hinein, ihren ganzen Schmerz. Ich fiel krachend durch. Das funktionierte überhaupt nicht. Vielleicht lag es ja nicht nur an mir. Vielleicht geht das heute nicht mehr. Aber vielleicht stelle ich mir heute diese Fragen, weil ich mich so in diese Figur hineinbegeben, weil ich mich so sehr an ihr abgearbeitet habe.

Heute hat das keinen Reiz mehr für Sie?

Ich bin an einem anderen Punkt: Wie komme ich mit dem Theater in etwas Kollektives? Wie kann man dem Ausdruck verleihen? Geht das mit Penthesilea? Ich kann mir das nur vorstellen, indem ich die Figur Penthesilea breche. Sie nicht durchlebe, sondern aufzeige stellvertretend für alle Penthesileas. Vielleicht liegt das ja auch daran, dass ich es liebe zu zerstören, was ich aufbaue. Aber es gilt auch, was mein Kollege Manfred Karge auf einer gemeinsamen Probe an Thomas Bernhards Forellenquintett mir einmal sagte: »Du darfst nie mehr wissen als deine Figur.« Immer wieder neue Figuren spielen, sich immer wieder neu zu entdecken – das ist Schauspielerei.

10.12.2021, 07:37

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