Gegen alle Widrigkeiten

Gogol-Center Nachdem der Regisseur im Jahr 2017 von russischen Behörden unter Hausarrest gestellt worden war, wurde die Realisierung einer Schauspielinszenierung am DT unmöglich. So entstand die Idee einer Kooperation zwischen dem DT und dem Gogol-Center Moskau
Der Regisseur Kirill Serebrennikov bei den Proben zu „Decamerone“ im Gogol-Center
Der Regisseur Kirill Serebrennikov bei den Proben zu „Decamerone“ im Gogol-Center

Foto: Ira Polyarnaya/ Deutsches Theater Berlin

5 Fragen 5 Antworten mit Kirill Serebrennikov

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Die Liste ist inzwischen zu lang.
Was kann Theater, was nur Theater kann?
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Das Gogol-Center Moskau

Texte von Olga Fediannia

Das Haus

Im dunklen Gewirr der Bahnhofsgassen war ein Theater etwasvollkommen Deplatziertes, man dachte hier nicht an Kunstgenuss, sondern nur ans schnelle Weg- und Weiterkommen. Das Theater stand auf einem unsichtbaren Abstellgleis, selbst in den späten 1970ern, als in Moskau keine Theaterkarte zu ergattern war, waren die Gogol-Karten wenig gefragt.
In den 1990ern kamen zwar einzelne interessante Regisseure und Produktionen ans Haus. Es half aber nichts, das Gogol-Theater blieb „ein Theater, wo man nicht hingeht“. Das änderte sich im August 2012 schlagartig: Die Stadtverwaltung, damals sehr reformorientiert, besetzte die künstlerische Leitung neu. Kirill Serebrennikov, ein erfolgreicher, ambitionierter und produktiver Regisseur kam und brachte sein eigenes Team mit. Das waren Schauspieler*innen, Produzent*innen und Kurator*innen, mit denen er zuvor das Projekt „Plattform“, ein staatlich finanziertes, interdisziplinäres Zentrum für zeitgenössische Kunst, aufgebaut hatte. Der Einzug des neuen Teams verlief nicht friedlich. Alteingesessene Schauspieler fürchteten um ihre unbefristeten Verträge, sie wollten keine Unruhe und vor allem keine, wie man in Russland sagt, „Klassikerschändung“.
Serebrennikov
hatte sich bereits einen Ruf für witzige und freche Interpretationen klassischer Stoffe erworben. Man kämpfte, schrieb Briefe ans Kulturministerium, organisierte Protestkundgebungen. Aber langsam nahm das Theater seinen Betrieb auf, ein Teil des alten Ensembles ging, manche blieben – und haben es nicht bereut. Bereits in der ersten Spielzeit stellte sich heraus: Das neue Gogol-Theater, bzw. das Gogol-Center, wie es fortan hieß, wird eine Erfolgsgeschichte. Kirill Serebrennikov hatte das Theatersystem in Europa gut studiert und baute zügig etwas auf, was sich am ehesten an der frühen Volksbühne von Frank Castorf orientierte: Ein lebendiges Haus, wo man hingeht, ohne vorher ins Programm zu schauen, weil man weiß, dass hier immer etwas Spannendes geboten wird: wenn nicht ein Schauspiel auf der Hauptbühne, dann eine Lesung im kleinen Saal oder ein Konzert im Foyer und in jedem Fall gibt’s ein Glas Wein im Café. Das Gogol-Center wurde fast zu einem Rund-um-die-Uhr-Betrieb, wo man sich auch tagsüber gerne mit Freunden verabreden und dabei noch viele Bekannte und Halbbekannte begrüßen konnte. Dieses Angebot lockte zunächst das Lieblingspublikum von Serebrennikov an, die Jugend. Gerade für sie war ausschlaggebend, dass das neue alte Haus nicht nur zeitgemäße Ästhetik, sondern auch zeitgemäße Atmosphäre versprach. Das neue Gogol-Center war jedoch nicht als Freizeiteinrichtung gedacht, sondern als experimentierfreudige Hauptstadtbühne. Dass dieses Konzept aufging, dafür sorgte der Theaterleiter von Beginn an.

Der Theaterleiter

Kirill Serebrennikov als Intendant war – und bleibt – für viele überraschend. 2012 galt der Theatermann als erfolgreich, produktiv, charismatisch und sehr ambitioniert. Dass er einen begründeten Anspruch auf ein eigenes Haus hatte, war offensichtlich. Die Gogol-Bühne erschien vielen jedoch als ein beleidigend unattraktives Angebot, eine Art Beamten-Zynismus: „Mal sehen, was du dort hinkriegst, wo alle scheiternˮ. Dass Kirill nicht scheiterte, war erstaunlich genug, noch erstaunlicher war das Wie. Die logische Erwartung war, dass ein Regietalent wie er, von Schülern und Mitstreitern umgeben, die Entwicklung des Hauses an seine eigene Erfolgsgeschichte knüpfen und das neue Gogol zu einem „Serebrennikov-Theater“ machen würde. Doch nichts desgleichen passierte. Bereits in der ersten Spielzeit profilierte sich Kirill vor allem als Intendant, Förderer und Entdecker. Er lud gleich mehrere vielversprechende junge Regisseure ein, die mit ersten Arbeiten auf sich aufmerksam gemacht hatten, ohne dass ihnen bisher der große Durchbruch gelungen war. Seine eigenen Arbeiten stellte der Chef demonstrativ in eine Reihe mit ihren Inszenierungen. Das neue Repertoire plante er gleich in Reihen – die Erfolgsserie der ersten Spielzeit bildeten drei Inszenierungen nach berühmten Drehbüchern („Rocco und seine Brüder“, Regie: Alexej Misgirev; „Idioten“, Regie: Kirill Serebrennikov; „Angst essen Seele auf“, Regie: Vlad Nastavschev). Später kam noch die Serie „Der Stern“ hinzu: Fünf metaphorische Lebensgeschichten der russischen Dichter Pasternak, Mandelstam, Kusmin, Akhmatova und Majakovskij. Eine weitere Reihe, russische Klassiker aus heutiger Sicht neu interpretiert, bildet seit sechs Jahren das Rückgrat des Repertoires, darunter: Bunin, Puschkin, Nekrasov, Gontscharov und selbstverständlich der Hausheilige Nikolai Gogol. Noch eine wichtige Linie kann man als „Entdeckungen“ beschreiben. Das sind die Autoren, die dem breiten Publikum in Russland wenig bekannt sind. Hier sind „MüllerMaschine“ und „Kafka“ von Serebrennikov beispielhaft. Bei der Auswahl der Gastregisseure und bei den eigenen Produktionen hielt sich der Chefregisseur immer an eine Grundregel. Das moderne Theater wird im Gogol-Center als etwas Spannendes vermittelt: bunt, frech und offen. Von vielen Kollegen unterscheidet sich Serebrennikov durch seine Abneigung gegen jegliches Kunstsektierertum, gegen alles, was die Welt in wir und nicht wir teilt, gegen alle Versuche, sich hinter dem Nicht-Zugänglichen zu verstecken. In seinem Theater herrschen der Rhythmus und die Sprache der Straße, es ist im Hier und Jetzt beheimatet und im weitesten Sinne inklusiv: immer weitere Zusammenhänge müssen erschlossen und angeschlossen werden. Seine eigenen Arbeiten leben von dieser einladenden, niemanden ausschließenden Energie. Kirill kann experimentelle Videotechnik, Pop-Art-inspirierte Kostüme, installationsartige Bühnenbilder, klassischen Gesang und traditionell ausgebildete ältere Schauspieler zusammenbringen. Und alle fühlen sich wohl. Diese Fähigkeit des Chefs macht aus dem Gogol-Center nicht einfach einen gut besuchten Ort, sondern einen Ort, der von allen gerne besucht wird. Hier treffen sich im Foyer Studenten, Beamte, Geschäftsleute, Menschen aus der Unterhaltungsbranche und Intellektuelle – kurz, „ganz Moskau“. Und eben dieses Zusammenkommen im Foyer beweist etwas, was simpel oder naiv klingen mag, aber in Russland (und nicht nur dort) nicht selbstverständlich ist: zeitgenössische Kunst ist kein Biosphärenreservat, sondern Mainstream. Durch diese breite Basis wurde Serebrennikovs Theater nicht nur sehr populär, sondern auch sehr stabil. Andernfalls hätte das Gogol-Center die Ereignisse der letzten zwei Jahre nicht überstanden.

Das Team

Seit Mai 2017 läuft nun das seltsame Ermittlungs- und Gerichtsverfahren, das in den russischen Medien schlicht „das Theaterverfahren“ genannt wird. Selbst eine kurze Schilderung der Hintergründe würde den Rahmen dieses Textes sprengen, aber so viel muss zum Verständnis gesagt werden.
Die Staatsanwaltschaft beschuldigte Kirill
Serebrennikov staatliche Gelder für das Projekt „Plattform“ veruntreut zu haben. Selbst denjenigen, die Kirill mit großer Missgunst gegenüberstehen, fällt es mittlerweile schwer, diese Beschuldigungen ernst zu nehmen. Serebrennikov stand trotzdem 20 Monate lang unter Hausarrest und ist, unter Auflagen, freigelassen worden – an dem Tag, an dem ich diesen Text schreibe. Während dieser gut anderthalb Jahre durfte er weder das Theater betreten noch telefonieren noch das Internet benutzen. Das Gogol-Center stand ohne seinen künstlerischen Kopf und ohne jede Gewissheit da, wann man diesen im Probenraum wiedersehen würde. Es sah so aus, als ob es für das Ensemble und das Leitungsteam nur zwei Möglichkeiten gäbe: Einen neuen Leiter zu akzeptieren oder im Chaos zu versinken … Das Gogol-Center aber arbeitete 20 Monate lang so, als ob kein Ausnahmezustand bestünde, beziehungsweise, als ob der Ausnahmezustand die natürlichste Sache der Welt wäre. Keine einzige Premiere wurde abgesagt oder verschoben, Gastregisseure wurden verpflichtet, Gastspiele fanden wie verabredet statt. All das wäre bei einer traditionellen, konservativen Bühne vorstellbar, wo alle Abläufe längst Routine sind. Bei dem alten Gogol-Theater eben. Aber nicht bei diesem jungen, fragilen, chaotischen Gogol-Center.

14.02.2020, 16:53

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