„Dieses Projekt ist in jeder Hinsicht einzigartig. Zum einen gibt es selten Inszenierungen, in denen Schauspieler*innen auf verschiedenen Sprachen zusammenarbeiten. Im Sprechtheater galt Mehrsprachigkeit immer als ein Hindernis für die Verwirklichung von internationalen Projekten. In unserer Inszenierung werden die deutschen und die russischen Schauspieler*innen auf der Bühne in ihren jeweiligen Muttersprachen zusammen spielen. Zum anderen ist es eine einzigartige Arbeit, weil mein Theater und ich persönlich große Unterstützung durch die deutsche Theaterszene und vor allem durch das Deutsche Theater Berlin erfahren haben. Seit einigen Jahren wartete das Team vom DT auf die Möglichkeit, das Projekt „Decamerone“ zu verwirklichen und hat sich nun, weil sie nicht länger warten wollten, für den einzigartigen Schritt entschieden, nach Moskau zu kommen, um hier zu proben – da ich das Land nicht verlassen darf. Es ist ein interessantes Abenteuer, ich hoffe, es wird gut ausgehen. Jetzt haben wir hier im Gogol-Center eine interessante Zeit und genießen sie sehr.“ – Kirill Serebrennikov, Regisseur und Leiter des Gogol-Center Moskau
Zum Stück
Es ist eines der großen Geschichtenarsenale der Weltliteratur: Giovanni Boccaccios Decamerone, verfasst in den Jahren zwischen 1349 und 1353. Seine Rahmenhandlung setzt mit der Pest in Florenz ein, vor der zehn junge Frauen und Männer auf einen Landsitz vor der Stadt fliehen. Dort erzählen sie sich zehn Tage lang jeweils zehn Geschichten (Decamerone heißt übersetzt: „Zehn-Tage-Werk“). Es sind allesamt Überlebenserzählungen, die die leidenschaftliche Liebe feiern.
Aus den insgesamt 100 Novellen hat der russische Regisseur Kirill Serebrennikov zehn Geschichten für zehn deutsche und russische Spieler*innen ausgewählt und ins Heute übertragen. Nicht auf einem toskanischen Landgut, sondern in einem profanen Gymnastikraum treffen Figuren unterschiedlichen Alters und sozialer Herkunft aufeinander. Hier trainieren auch fünf alte Frauen ihre Körper – Routinen gegen das Altern, den Tod. Die Bedrohung ist nicht in einem Außen verortet, sondern in der vergänglichen und verletzlichen Physis. Damit verschiebt Kirill Serebrennikov den Fokus von der antiklerikalen, subversiv erotischen Ausrichtung hin zu einer unheimlichen, existentiellen Körper- und Zeitbetrachtung, musikalisch strukturiert durch den Wechsel der Jahreszeiten. Was hat noch Bedeutung angesichts der Vergänglichkeit? Die Liebe. Das gesprochene Wort.
Kirill Serebrennikov, Theater- und Filmregisseur, Leiter des Moskauer Gogol-Center, ist in Deutschland bisher vor allem als Opernregisseur in Erscheinung getreten. „Decamerone“wird seine erste Schauspielinszenierung hierzulande sein – entwickelt mit einem gemischten Ensemble und künstlerischen Team aus Moskau und aus Berlin.
Die Hintergründe
„Der intensive Gastspielaustausch zwischen dem Gogol-Center und dem Deutschen Theater hat in den letzten Jahren zu einem sehr fruchtbaren künstlerischen Dialog zwischen Berlin und Moskau geführt. „Decamerone“ in der Regie von Kirill Serebrennikov, ist die erste Arbeit mit einem gemischten internationalen Team und Ensemble und damit ein großartiger weiterer Schritt der Begegnung auf diesem gemeinsamen Weg. Serebrennikovs Regiehandschrift, die die Freiheitssehnsüchte im Denken mit der unbändigen Kraft der Körper verbindet, ist für das Ensemble des Deutschen Theater Berlin Stärkung und Herausforderung zugleich. Wir freuen uns sehr über und auf dieses einzigartige Abenteuer!" – Ulrich Khuon, DT-Intendant
Die ursprünglich für die Spielzeit 2018/2019 geplante Inszenierung von Decamerone war aufgrund eines umstrittenen Strafprozesses vorerst gescheitert. Als Zeichen der Verbundenheit mit Kirill Serebrennikov konnte das Deutsche Theater seine Inszenierung „Who Is Happy In Russia“ erfreulicherweise während des internationalen Auftaktes Radar Ost des Festivals Autorentheatertage 2019 als Gastspiel zeigen und damit auch ein wichtiges politisches Signal für den damals noch immer mit einer Ausreisesperre belegten Künstler setzen.
Nachdem es im Sommer 2019 noch so schien, als könne Kirill Serebrennikov für die Proben zu „Decamerone“ nach Berlin kommen, hat sich der Wind kurz danach wieder gedreht. Die Meldung von einer Neuauflage seines gerichtlichen Verfahrens, die uns im September 2019 erreichte, konfrontierte alle Beteiligten mit Schwierigkeiten: Die Ausreise aus Russland ist Kirill Serebrennikov während des laufenden Verfahrens nicht erlaubt, so dass die Realisierung des Projekts erneut in Gefahr zu geraten drohte.
Es entstand die Idee, eine Kooperation zwischen dem Deutschen Theater Berlin und dem Gogol-Center Moskau zu initiieren, um die gemeinsame Zusammenarbeit trotz widriger Umstände zu ermöglichen. Einige Reisen nach Moskau und eine Reihe von Gesprächen später wird „Decamerone“ nun mit deutschen und russischen Schauspieler*innen im Januar und Februar in Moskau geprobt. Dort wird Kirill Serebrennikov in den Räumlichkeiten des Gogol-Centers die Inszenierung mit dem Team erarbeiten. In einer kurzen Endprobenphase in Berlin, die durch einen seiner engsten Assistenten begleitet werden soll, wird die Arbeit auf die Bühne des Deutschen Theaters übertragen.