Von Zorn und Wut

Thema Alle zwei Jahre veranstaltet die Stadt Frankfurt ein großes Literaturfestival. 43 Veranstaltungen, gewidmet der zunehmenden Gereiztheit gesellschaftlicher Debatten, mit Autor*innen, Wissenschaftler*innen und Journalist*innen sind hierfür geplant
Von Zorn und Wut

Foto: Alexander Paul Englert

„Was lag in der Luft? – Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge“, so heißt es in Thomas Manns Zauberberg. Die große Gereiztheit, die in der Schweizer Lungenheilanstalt nach der unendlichen Langeweile der gedehnten Zeit so plötzlich ausbricht, fungiert heute als Chiffre unserer Zeit.

Affekte treten an die Stelle von Argumenten. Das Selbstverständnis einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich über ihre Werte und Normen argumentativ verständigt, erodiert an den Rändern. Empörung, Zorn und Wut als Auswüchse überschießender Aggressivität im realen, vor allem aber im virtuellen Raum verändern das gesellschaftliche Klima. Unser demokratisches Gemeinwesen muss diese Neigung ins Extreme permanent austarieren. Von einer „Zornzerstreuung“ im Hier und Jetzt, wie sie Peter Sloterdijk unter Anrufung des antiken Thymos als der Instanz für zornige Aufwallung beklagte, kann keine Rede sein. Ob auf der Straße, in den Parlamenten oder im Internet die Erregungsspirale dreht sich immer schneller.

Große Themen wie der Klimawandel oder Petitessen wie das Foto von Greta Thunberg in einem ICE kochen auf denselben Siedepunkt hoch. Erregung hat sich in ein Kollektivsyndrom verwandelt, das von den sozialen Medien getriggert wird. Das bedeutet nicht, dass Hass und Hetze ein reines Internet- Phänomen sind. Radikale Parteien machen mit Affekten reale Politik Zornpolitik eben. Sie wissen, wie die Soziologin Elke Wagner es formuliert, dass Argumente Verhandelbar sind, Emotionen dagegen nicht. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, einer der profiliertesten Kritiker der großen Gereiztheit leidet zunehmend unter rage fatigue und ruft zur Abkühlung auf.
Zugleich gehört zur Erregung immer auch ein Moment von Energie, Leidenschaft, Wachheit und Interesse die Voraussetzung, um an wichtigen gesellschaftlichen Prozessen teilzuhaben. Ins Produktive gelenkt, erzeugen Erregungen Geist und Witz. Mehr noch, können sie durchaus auch ästhetische Qualität besitzen.

Zum Programm des literaTurm Festival

12.03.2020, 20:24

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