Notwendigkeit der Empörung

Kommentar Die Stadträtin Dr. Ina Hartwig über den diesjährigen Themenschwerpunkt des literaTurm. Ein Festival, das sich in Zeiten, in denen Politik zunehmend mit unverhandelbaren Affekten gemacht wird, mit dem Hass und Zorn in unserer Gesellschaft beschäftigt
Notwendigkeit der Empörung

Foto: Alexander Paul Englert

Die politische Situation in Thüringen hat es vor kurzem wieder gezeigt: es gibt Kräfte in diesem Land für die Demokratie ein Spielball ist, den sie benutzen, um ihre eigene, rechte Suppe zu kochen. Es waren wirklich dramatische Stunden nach der Wahl von Thomas Kemmerling zum Ministerpräsident, die uns allen die Vulnerabilität unseres Systems vor Augen geführt hat, weil ein demokratisches Verfahren allein für die Lust an der Verhöhnung der Demokratie missbraucht wurde. Was mir dann allerdings wieder Mut gemacht hat, war die ziemlich einhellige Empörungswelle, die dieser politische Sündenfall verursacht hat. Vielleicht markiert er den Beginn eines Sortierungsprozesses, der diejenigen im Land zusammenschweißt, die der extremen Rechte keinen Zentimeter mehr geben will und der auch diejenigen zum Nachdenken bringt, die ihre Stimme aus Protest einer Partei geben, die das, was unser Land ausmacht, seine Offenheit, Toleranz und Diversität, radikal aushebeln will.

Diese einleitenden Bemerkungen erlaube ich mir deshalb, weil sie sich gut einfügen in das Thema des diesjährigen Literaturfestivals Literaturm, das sich mit der steigenden Betriebstemperatur in unserer Gesellschaft beschäftigt. Politik wird zunehmend mit Affekten gemacht, die aber im Unterschied zu Argumenten nicht verhandelbar sind. Dass die großen Themen unserer Zeit zunehmend emotiv und nicht mehr rational diskutiert werden, entwickelt sich zur Chiffre unserer Zeit, die zu Buchtitel wie „Die große Gereizheit“, „Zornpolitik“ oder „Die Gesellschaft des Zorns“ geführt hat. „Der Zorn hat begrenzten Zweck und ernsthafte Schwächen“, so zitiert Carolin Emcke jüngst die Nobelpreisträgerin Toni Morrison in einem Kommentar zur Verbrämung von Zorn in der Rhetorik der Sorge. Es ist gut und richtig, dass ein Literaturfestival sich dieser für unsere Gesellschaft so wichtigen Frage nach unserer Kommunikationskultur- oder -unkultur stellt. Wenn es eine Kunstform gibt, die hier besonders gefordert ist, dann ist es die der Sprache. Denn sie ist die Membran sowohl für den Wutbürger wie auch für denjenigen, der in Differenzen denkt und argumentiert.

literaTurm feiert in diesem Jahr ein Jubiläum: Das Festival findet 2020 zum zehnten Mal statt. Es wurde bei seiner zweiten Auflage in literaturm umbenannt wurde, weil es vom Fluss, wo die Stadt das erste Mal ein eigenes Literaturfestival gefeiert hat, in Frankfurter Hochhäuser verlegt wurde. Die Skyline prägt das Weichbild von Frankfurt und so war es ziemlich konsequent, Lesungen in Hochhäusern zu veranstalten, weil damit das Buch als ein weiteres Frankfurter Erkennungsmerkmal mit den Türmen verbunden wurde.

Seit 2006 nun verantwortet Sonja Vandenrath das Festival und hat aus literaturm ein Konzeptfestival gemacht, das einen thematischen Schwerpunkt setzt. Ich begrüße sehr, dass Literaturm unter Beweis stellt, dass Festivals keineswegs auf ihren Eventcharakter reduziert werden können, sondern durch ein aufeinander abgestimmtes Programm aktuelle Themen verdichten und zugleich multiperspektivisch durchspielen. Es sind immer Schwerpunkte, die auf wichtige Diskurse unserer Zeit reagieren, vielleicht sogar ein bisschen antizipieren. Jedenfalls umfasst das Programm schon seit 2006 auch Sachbücher, die gerade sehr viel Aufmerksamkeit und Rückenwind bekommen.

Dr. Ina Hartwig

12.03.2020, 20:24

Event: Weitere Artikel


Einmaliges Konzeptfestival

Einmaliges Konzeptfestival

Zum Festival Als Festival, das sowohl in Frankfurter Türmen als auch an ausgewählten Orten der Region wie in Darmstadt oder Offenbach stattfindet, festigt literaTurm das gemeinsame Selbstverständnis der Rhein- Main-Region als ein kulturelles Kraftzentrum
Von Zorn und Wut

Von Zorn und Wut

Thema Alle zwei Jahre veranstaltet die Stadt Frankfurt ein großes Literaturfestival. 43 Veranstaltungen, gewidmet der zunehmenden Gereiztheit gesellschaftlicher Debatten, mit Autor*innen, Wissenschaftler*innen und Journalist*innen sind hierfür geplant
Zeitgenössische Denker*innen

Zeitgenössische Denker*innen

Netzschau “Wir sind schuld. Wir alle. Wenn Politikerinnen und Politiker ohne jegliche Scham [...] ihr Misstrauen gegenüber einer Religion, dem Islam, zum Mittelpunkt ihres Parteiprogramms machen, dann haben wir etwas falsch gemacht. Wir, das sind alle ...“

Maxim Biller | Einzelportrait

Video "Ich bin mit vierzig von München nach Berlin gezogen, das war schon hart genug." Ein Portrait von Maxim Biller, der mit seinem Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 stand. Für das literaTurm am 29. März im Gespärch mit Helge Malchow


Ingo Schulze | Im Gespräch

Video Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ingo Schulze erlangte internationale Bekanntheit mit seinem Bestseller „Simple Storys" von 1998, der in 19 Sprachen übersetzt wurde. Bei literaTurm im Gespräch am 24. März mit Helmut Böttiger


Extremwetter | Dokumentation

Video Hitze, Dürre, Stürme und Fluten – das Wetter scheint wild geworden zu sein. Wissenschaftliche Fakten geben das Rüstzeug für ein verantwortungsvolles Handeln in der Zukunft. Eine Dokumentation des ZDF in Zusammenarbeit mit Gruppe 5 Filmproduktion


Antisemitismus mitten in Europa | Doku

Video Antisemitismus: Die Angst geht wieder um in Europa. Regelmäßig fürchten sich jüdische Menschen vor Angriffen auf offener Straße, Friedhöfe werden geschändet, bei Aufmärschen Hassparolen skandiert. Eine Dokumentation des WDR