Die politische Situation in Thüringen hat es vor kurzem wieder gezeigt: es gibt Kräfte in diesem Land für die Demokratie ein Spielball ist, den sie benutzen, um ihre eigene, rechte Suppe zu kochen. Es waren wirklich dramatische Stunden nach der Wahl von Thomas Kemmerling zum Ministerpräsident, die uns allen die Vulnerabilität unseres Systems vor Augen geführt hat, weil ein demokratisches Verfahren allein für die Lust an der Verhöhnung der Demokratie missbraucht wurde. Was mir dann allerdings wieder Mut gemacht hat, war die ziemlich einhellige Empörungswelle, die dieser politische Sündenfall verursacht hat. Vielleicht markiert er den Beginn eines Sortierungsprozesses, der diejenigen im Land zusammenschweißt, die der extremen Rechte keinen Zentimeter mehr geben will und der auch diejenigen zum Nachdenken bringt, die ihre Stimme aus Protest einer Partei geben, die das, was unser Land ausmacht, seine Offenheit, Toleranz und Diversität, radikal aushebeln will.
Diese einleitenden Bemerkungen erlaube ich mir deshalb, weil sie sich gut einfügen in das Thema des diesjährigen Literaturfestivals Literaturm, das sich mit der steigenden Betriebstemperatur in unserer Gesellschaft beschäftigt. Politik wird zunehmend mit Affekten gemacht, die aber im Unterschied zu Argumenten nicht verhandelbar sind. Dass die großen Themen unserer Zeit zunehmend emotiv und nicht mehr rational diskutiert werden, entwickelt sich zur Chiffre unserer Zeit, die zu Buchtitel wie „Die große Gereizheit“, „Zornpolitik“ oder „Die Gesellschaft des Zorns“ geführt hat. „Der Zorn hat begrenzten Zweck und ernsthafte Schwächen“, so zitiert Carolin Emcke jüngst die Nobelpreisträgerin Toni Morrison in einem Kommentar zur Verbrämung von Zorn in der Rhetorik der Sorge. Es ist gut und richtig, dass ein Literaturfestival sich dieser für unsere Gesellschaft so wichtigen Frage nach unserer Kommunikationskultur- oder -unkultur stellt. Wenn es eine Kunstform gibt, die hier besonders gefordert ist, dann ist es die der Sprache. Denn sie ist die Membran sowohl für den Wutbürger wie auch für denjenigen, der in Differenzen denkt und argumentiert.
literaTurm feiert in diesem Jahr ein Jubiläum: Das Festival findet 2020 zum zehnten Mal statt. Es wurde bei seiner zweiten Auflage in literaturm umbenannt wurde, weil es vom Fluss, wo die Stadt das erste Mal ein eigenes Literaturfestival gefeiert hat, in Frankfurter Hochhäuser verlegt wurde. Die Skyline prägt das Weichbild von Frankfurt und so war es ziemlich konsequent, Lesungen in Hochhäusern zu veranstalten, weil damit das Buch als ein weiteres Frankfurter Erkennungsmerkmal mit den Türmen verbunden wurde.
Seit 2006 nun verantwortet Sonja Vandenrath das Festival und hat aus literaturm ein Konzeptfestival gemacht, das einen thematischen Schwerpunkt setzt. Ich begrüße sehr, dass Literaturm unter Beweis stellt, dass Festivals keineswegs auf ihren Eventcharakter reduziert werden können, sondern durch ein aufeinander abgestimmtes Programm aktuelle Themen verdichten und zugleich multiperspektivisch durchspielen. Es sind immer Schwerpunkte, die auf wichtige Diskurse unserer Zeit reagieren, vielleicht sogar ein bisschen antizipieren. Jedenfalls umfasst das Programm schon seit 2006 auch Sachbücher, die gerade sehr viel Aufmerksamkeit und Rückenwind bekommen.
– Dr. Ina Hartwig