Geologie der Gegenwart

Ausstellung Zeitgleich zu den Thementagen eröffnet im HKW die Ausstellung von Giulia Bruno und Armin Linke. Die Künstler:innen erforschen die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, die das neue geologische Zeitalter des Anthropozäns hervorbringen
Earth Indices. Processing the Anthropocene
Earth Indices. Processing the Anthropocene

Foto: © Giulia Bruno und Armin Linke für das Haus Der Kulturen Der Welt, Berlin (2020 – 2022) (Nona Chiariello)

Earth Indices – Die Verarbeitung des Anthropozäns

Ausstellungseröffnung am 19.05. (18 Uhr) | Eintritt frei!

Wie lassen sich die Veränderungen im Erdsystem nachvollziehen? Wer schreibt die Chronik des Planeten? Und welche Instrumente und Praktiken machen die Transformationen der Erde lesbar? Zwei Jahre lang habenGiulia BrunoundArmin Linkedie Forschungen der Anthropocene Working Group (AWG) zur geologischen Bestandsaufnahme des neuen Erdzeitalters begleitet.Earth Indicesist das Ergebnis dieser engen Zusammenarbeit zwischen den beiden Künstler*innen und den vielen beteiligten Wissenschaftler*innen. Die Gestalterin Linda van Deursen hat dazu ein grafisches Register entworfen, das den vielstimmigen Charakter dieses Forschungsprojekts transparent macht.

Die Ausstellung zeigt sowohl die Orte und Landschaften, die von den Wissenschaftler*innen erforscht wurden, als auch die komplexen Arbeitsschritte in den Laboratorien, in denen Sedimente in interpretierbare Daten übersetzt werden.Earth Indicesnimmt die vielfältigen Austausch- und Abstimmungsprozesse des Forschungsprozesses in den Blick und beleuchtet die spezifischen Verfahren zur Herstellung geologischer Evidenz. So entsteht ein vielschichtiges Archiv, das den Entstehungsprozess einer neuen geologischen Epoche dokumentiert und befragt.

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In den Archiven der Erde lesen wir die Geschichte des Planeten. Die Zusammensetzung und Schichtung von Gesteinen, Sedimenten und Fossilien lässt auf lang vergangene klimatische Bedingungen, tektonische Verschiebungen und ökologische Verhältnisse schließen. Aufgabe der Geochronologie ist es, diese planetare Tiefenzeit zu klassifizieren, sie in Abschnitte zu unterteilen und die Momente des Übergangs zu identifizieren. Auf diese Weise haben Geolog*innen eine Chronik des Planeten geschrieben, die über Ereignisse und Epochen der Erdgeschichte Auskunft gibt. Was aber weiß die Geologie von der Gegenwart?

Die Umwälzungen des Erdystems in den letzten Jahrzehnten zeigen, dass planetare Zeitlichkeiten und Dynamiken untrennbar mit gesellschaftlichen und politischen Prozessen verknüpft sind. Die Notwendigkeit, Planet und Gesellschaft zusammenzudenken, zeigt sich besonders prägnant in dem Vorhaben, das Anthropozän als neue Erdepoche anerkennen zu lassen und in in die geologische Zeitskala aufzunehmen. Dieses Ziel verfolgt die Anthropocene Working Group (AWG) seit 2009. Voraussetzung dafür ist die Identifizierung eines sogenannten Golden Spike, eines spezifischen Ortes auf der Welt, an dem der planetare Übergang von einem Erdzeitalter ins nächste stratigrafisch eindeutig ablesbar ist.

[...] Mit der eklatanten Beschleunigung und Globalisierung ökonomischen Wachstums und ökologischer Verheerung hinterlassen die industriellen Aktivitäten eines zunehmend größer werdenden Teils der Menschheit eine offenkundige chemische Gravur im irdischen Archiv. Nach zehnjähriger Forschungsarbeit ist die AWG im Jahre 2019 übereingekommen, den Beginn des Anthropozäns auf die Mitte des 20. Jahrhunderts, den Anfang der sogenannten Great Acceleration, zu datieren. Die planetaren Auswirkungen dieser „großen Beschleunigung“ auf das Leben, die Luft, die Meere, Seen und Flüsse sowie das Meereis und die Gletscher werden ab diesem Zeitraum deutlich sicht- und messbar. Zum ersten Mal stehen nun Chronostratigraf*innen vor der diffizilen Aufgabe, eine Erdepoche zu definieren, deren Startpunkt mitunter in der eigenen Kindheit liegt.

Wie lässt sich diese unauflösbare Verflechtung zwischen den Forscher*innen und ihrem Gegenstand darstellen? Wie verwandeln sich geologische Materialien auf ihrem Weg durch die Laboratorien und die Hände der Wissenschaftler*innen? Welche Prozesse des Austauschs und der Übersetzung liegen der Produktion geologischer Evidenz für das Anthropozän zugrunde? Wie wird die These vom neuen Erdzeitalter operationalisiert, wie wird das Anthropozän „verarbeitet“?

Earth Indices ist das Ergebnis einer zweijährigen Zusammenarbeit zwischen den Künstler*innen Giulia Bruno und Armin Linke und den vielen Wissenschaftler*innen, die an der stratigrafischen Erforschung des Anthropozäns beteiligt sind. Giulia Bruno und Armin Linke blicken auf ein Jahrzehnt der Auseinandersetzung mit anthropozänen Fragestellungen zurück. Bereits 2013/2014 gingen sie in ihrer gemeinsam mit Territorial Agency und Anselm Franke für das HKW entwickelten Arbeit Anthropocene Observatory den Auswirkungen des neuen Erdzeitalters auf gesellschaftliche Infrastrukturen, Regierungsformen und Communitys nach. Seitdem befassen sie sich kontinuierlich mit Fragen des Handelns und Forschens im Anthropozän.

[...] Die Symptome des Anthropozäns zeigen sich bereits in den verschiedensten Sphären des Erdsystems und der Gesellschaft; als Störung, als Unterbrechung, als Unsicherheit. Bislang mangelt es an Bildern, Sprachen und Grammatiken, die diesen Prozess versteh- und verhandelbar machen. Die Ausstellung von Giulia Bruno und Armin Linke ist ein Vorschlag zur Schließung dieser Lücke. Earth Indices ist ein Ensemble der anthropozänen Wissensproduktion, ein Versuch, die Produktionsbedingungen des neuen Erdzeitalters sicht- und lesbar zu machen.

kuratorisches Statement von Katrin Klingan

12.05.2022, 14:05

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