„Eine Hommage an alle, die noch durchhalten“

Interview Die spanische Regisseurin Carla Simón erzählt im Gespräch von dem persönlichen Anliegen hinter „Alcarràs – Die letzte Ernte“. Einem Film, der von einer Welt erzählt, die in den letzten Jahren abgedrängt wurde und mittlerweile nahezu verschwunden ist
Unbändige Kraft: Die Kinder der Familie Solé
Unbändige Kraft: Die Kinder der Familie Solé

Foto: Piffl Medien

Wie ist die Idee zu „Alcarràs“ entstanden, mit seinem besonderen Setting auf dem Land?

Meine Onkel und Tanten bauen Pfirsiche in Alcarràs an. Alles, was man an diesem Ort lebt und teilt, hat eine ungeheure emotionale Bedeutung für meine Familie. Als mein Großvater starb, habe ich das, was er uns mitgegeben hat, seine Welt und seine Arbeit, noch einmal wahrzunehmen gelernt. Ich stellte mir vor, dass die Bäume eines Tages verschwinden könnten. Das verstärkte das Bedürfnis, diesen Ort zu zeigen, seine Bäume, seine Felder, seine Menschen, ihre Gesichter, die Härte ihrer Arbeit, die Hitze der Sommermonate ... Ich glaube, das hat eine enorme filmische Dimension. Die letzte Ernte der Familie Solé erschien mir als guter Ausgangspunkt, um von einer Welt zu erzählen, die am Verschwinden ist, von Menschen, die ihr Land aufgeben müssen, wie es so vielen passiert.

Was hat Sie an dieser Welt interessiert?

In diesem Film geht es auch um die Frage, was Landwirtschaft heute ist. Viele meinen, das Land solle denen gehören, die es bearbeiten, so wie die Familie Solé es über Generationen gemacht hat. Aber die Solés können nur eine mündliche Absprache darüber vorweisen, wem dieses Land gehört. Über die Besitzverhältnisse hinaus ist die Frage wichtig, wie und bis zu welchem Punkt Tradition und Veränderung nebeneinander Platz haben können. Die Solés leben in einer Zeit, in der diese Form der Landwirtschaft nicht mehr genug einbringt. Große Unternehmen übernehmen den Boden, die geringen Erzeugerpreise zwingen dazu, den Obstanbau durch rentablere Bewirtschaftungen zu ersetzen, die Kinder gehen weg, um ihr Glück in anderen Berufen zu versuchen. Die Modelle verändern sich. Die Welt, wie wir sie kannten, kommt an ihr Ende.In diesem Sinn ist der Film auch eine Hommage an diese letzten Familien, die noch durchhalten auf ihrem Land. Sie sind es, die am respektvollsten mit dem Boden umgehen, nicht zuletzt, weil sie das Land ihren Kindern und Enkeln vermachen wollen. Vielleicht tut sich mit der biologischen Landwirtschaft und einem geschärften Bewusstsein fürdas, was uns wichtig ist, ein Weg für diejenigen auf, die das Land weiter in dieser familiengeführten Form bewirtschaften wollen.

Das Thema der Familie ist zentral in „Alcarràs“.

Niemand sucht sich seine Familie aus, man wird in sie hineingeboren. Deshalb sind Familienbeziehungen so komplex und tief, so widersprüchlich und gleichzeitig so bedingungslos. Darum geht es in „Alcarràs“, um familiäre Beziehungen, um die Reibungen zwischen den Generationen, um Geschlechterrollen, um die Notwendigkeit, in Krisenzeiten zusammenzuhalten, auch um die Notwendigkeit sich anzupassen. Es geht um das Fehlen vonKommunikation innerhalb der Familie, darum, wie vielleicht alles sehr viel einfacher sein würde, wenn wir den Mut hätten, mit lauter Stimme zu sagen, was wir meinen und fühlen. „Alcarràs“ ist ein vielstimmiger Film, in dem jedes Mitglied der Familie Solé versucht, seinen Platz inmitten einer Krise zu finden, die ihre gemeinsame Identität gefährdet: Hier geht eine Welt zu Ende, von der alle glaubten, sie sei für immer da. Manchmal denke ich, dass „Alcarràs“ eigentlich ein Action-Film ist. Es gibt keine Explosionen, keine Schießereien oder Spezialeffekte, aber die Mitglieder dieser Familie erleben eine wirkliche Achterbahnfahrt der Gefühle, die ihre Verhältnisse grundlegend durcheinander rüttelt.

„Alcarràs“ erzählt die Geschichte einer Großfamilie. Was hat Sie daran besonders interessiert?

Die wichtigste Inspirationsquelle für mich ist meine Familie, das ist ein unendlich tiefer Brunnen voller Geschichten. Mein Leben war immer voller Menschen. Wir kommen sehr oft zusammen, und plötzlich sehe ich mich umringt von Großeltern, Vätern, Müttern, Onkeln, Tanten, Geschwistern, Cousinen und Cousins ... Ich wollte einen Ensemblefilm machen, weil ich zeigen wollte, was es bedeutet, Teil einer großen Familie zu sein, wie die Gefühle der einen die der anderen beeinflussen, vor allem in einer Zeit der Krise. Es gibt etwas in der Familie, das dazu führt, dass sie sich manchmal wie ein einziger emotionaler Körper bewegt.

Wie groß war die Herausforderung, sich nach dem großen Erfolg Ihres Debüts „Fridas Sommer“ an einen Film mit so vielen gleichberechtigten Protagonist:innen zu wagen?

Das war tatsächlich auf vielen Ebenen eine Herausforderung: Die erzählerische Ebene, die Frage, wie man diese Geschichte baut, die Arbeit mit einem so großen Ensemble nicht-professioneller Schauspieler ... Wir wussten, dass wir uns mit diesem Film auf einen schmalen Grat begeben würden. Im Vergleich zu „Fridas Sommer“ gab es viele Protagonist:innen, und manche erzählerische Ideen waren vielleicht etwas weniger konventionell. Aber ich wusste, dass ich diese Geschichte erzählen wollte, und wir hatten eine Idee davon, wie wir das versuchen wollten. Ich glaube, dass jedes Projekt etwas Neues für einen mitbringen muss. In diesem Fall waren es vor allem die Arbeit mit den nicht-professionellen Schauspieler:innen und der chorale Charakter der Erzählung.

Was gab den Ausschlag, mit nicht-professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern zu arbeiten?

In unserem Fall machte das von Anfang an Sinn, weil es nicht die Geschichte eines einzelnen Protagonisten ist, sondern dievon vielen. Ich wusste, dass ich die Rollen der Kinder und Jugendlichen mit nicht-professionellen Schauspielern besetzen wollte, auch die des Großvaters. Das setzte den Ton. Ich wollte Schauspieler, die wissen, was Landwirtschaft bedeutet, die eine Verbindung zum Boden haben, die verstehen, was es bedeutet, ihn zu verlieren. Man sieht, ob ein Bauer auf der Leinwand ein Bauer ist, man sieht es an der Haut, an den Händen, daran, wie er auf einen Traktor steigt oder einen Pfirsich anfasst. Die meisten Leute in der Gegend von Alcarràs sind Bauern oder kommen aus Familien von Bauern. Ich war mir sicher, dass ich hier wunderbare Schauspieler finden würde.Außerdem spricht man in dieser Gegend einen sehr besonderen Dialekt des Katalanischen. Um diesen Ort glaubwürdig darzustellen, erschien es mir wichtig zu respektieren, wie sich die Leute von dort ausdrücken.

Wie haben Sie Ihre Schauspielerinnen und Schauspieler gefunden?

Für das Casting sind wir auf alle Feste in den Dörfern der Region gegangen, auf Märkte, auf Veranstaltungen. Das war noch vor der Pandemie. Wir haben Leute gesucht, die möglichst nahe an den Figuren waren, die wir geschrieben hatten, und haben dann Probeaufnahmen mit ihnen gemacht. Es war sein sehr langer Prozess. Am Ende hatten wir uns mehr als 9.000 Leute angeschaut. Anfangs hatte ich die Hoffnung, vielleicht mehrere Schauspieler auseiner Familie zu finden, aber das hat nicht funktioniert. Jedes Mitglied unserer Familie Solé kommt aus einem anderen Dorf der Gegend.

Wie haben Sie mit Ihrem Ensemble gearbeitet, in der Vorbereitung und beim Dreh?

Die Lösung der Aufgabe, eine wirkliche Familie mit eigenen Beziehungen zwischen allen herzustellen, bestand darin, sehr viel Zeit miteinander zu verbringen, zu improvisieren und zu proben. So haben wir nach und nachdie Verbindungen der Familie und unter den Familienmitgliedern geschaffen. Mit der Zeit haben sie diese Verbindungen gelebt, sie wurden glaubwürdig für sie. Bis heute reden sie sich mit den Namen ihrer Figuren an ... Nach drei Monaten haben wir uns dann hingesetzt und das Drehbuch einmal gemeinsam gelesen. Danach haben wir dann mit den Proben der Szenen begonnen. Dieser Film brauchte sehr viel Vorbereitung.

„Alcarràs“ wurde auf der Berlinale und beim Kinostart in Spanien als ein Film aufgenommen, der den Bogen vom Intimen zum Politischen schlägt. War Ihnen das vorher so bewusst?

Manchmal ist man überrascht, wenn ein Film fertig ist, dass manche Dinge darin eine größere Bedeutung haben, als man selbst gedacht hat. Genau das ist uns mit dem politischen Aspekt von „Alcarràs“ passiert. Natürlich war uns diese Dimension bewusst. Aber ich arbeite immer aus dem Detail heraus, aus den Gesten, aus dem Intimen, und es war eine Entdeckung für mich, dass man aus dem Intimen heraus so stark vom Politischen erzählen kann. Was wir wollten, war die Geschichte dieser Familie zu erzählen, daraus ist alles andere entstanden.

11.08.2022, 09:23

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