„Aus doppelt historischer Perspektive“

Interview Bruch mit der Realität: Julian Radlmaiers löst in „Blutsauger“ ganz bewusst die Grenzen zwischen Historie und Gegenwart auf und sorgt damit für gewaltige Irritationen. Welche Rolle dabei seine Besetzung spielt, erzählt der Regisseur im Gespräch
Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg) mit Diener Jakob (Alexander Herbst) und dem sowjetischen Arbeiter Ljowuschka (Alexandre Koberidze).
Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg) mit Diener Jakob (Alexander Herbst) und dem sowjetischen Arbeiter Ljowuschka (Alexandre Koberidze).

Foto: Grandfilm

Die Handlung des Films ist im Jahr 1928 verortet. Warum hast Du gerade dieses Jahr bzw. diesen Zeitpunkt in der Geschichte ausgewählt?

Das kam eigentlich auf recht merkwürdigen Wegen. In einer Eisenstein-Biografie las ich über die Entstehung des Films „Oktober“, der zum zehnjährigen Jubiläum der russischen Revolution in Auftrag gegeben worden war. Eisenstein hatte natürlich einige Szenen gedreht, in denen die Figur Leo Trotzkis auftauchte. Als er aber im Schneideraum saß, hatte jener schon den Machtkampf gegen Stalin verloren und musste folglich aus dem Film getilgt werden. So weit, so bekannt. Worauf ich nun ansprang, war ein eigensinniges historisches Detail: Der lapidare Satz, der herausgeschnittene, namenlose Trotzki-Darsteller sei im wahren Leben „eine Art Zahnarzt“ gewesen. Was, bitteschön, ist „eine Art“ Zahnarzt? Daran hat sich meine Fabulierlust entzündet und so entstand die Idee für die Figur des Ljowuschka. So war der historische Rahmen gesetzt. Natürlich bot dieser darüber hinaus interessante Fragen, die in der heutigen Zeit widerhallen: Einerseits setzt in den Zwanzigern die Enttäuschung über den real existierenden Sozialismus ein, der unsere Gegenwart noch immer prägt. Andererseits taucht der Faschismus als gewaltsame Scheinlösung gesellschaftlicher Widersprüche auf. Trotzdem ist Blutsauger kein klassischer Historienfilm „über“ die Zwanziger. Und historische Parallelen sind sowieso mit Vorsicht zu genießen. Eher interessiere ich mich für bestimmte strukturelle Fragen, die gewissermaßen aus einer doppelten historischen Perspektive betrachtet werden, in der die Gegenwart die Vergangenheit verfremdet und vice versa. So ist Blutsauger vor allem ein Film über die verführerische Bannkraft des bürgerlich- kapitalistischen Subjekts, über die Schwierigkeit menschlicher Beziehungen in der Klassengesellschaft, über den Zwang zur Arbeit und das Recht auf Faulheit, über die Verfügung über die eigene Zeit und den eigenen Körper, die strukturelle Funktion von Rassismus, über Abstiegsängste, Aufstiegsfantasien und die alte Frage, ob man es sich als Einzelner gemütlich machen kann in unwirtlichen Verhältnissen, ohne sich zu korrumpieren.

Das Setting im Film entspricht nicht einem historisch-authentisch ausgestatteten „period piece“, es gibt beispielsweise moderne Containerschiffe am Horizont oder ein Motorrad aus dem 21. Jahrhundert. Warum hast Du Dich für diese Brüche entschieden?

Die 1920er sind ein heikles Terrain, weil sie wie kaum eine andere Epoche medial und kulturindustriell verwurstet wurden. Vor dem „Die- wilden-20er“-Fetisch mit den dazugehörigen Klischeebildern haben wir uns also gehütet wie der Teufel vor dem Weihwasser und also weitgehend auf die typischen Insignien der Zeit verzichtet. Oft verhindert die penible Rekonstruktion, in der jeder Gegenstand „Vergangenheit“ bedeuten bzw. unser Vorstellungsbild davon bestätigen soll, dass man unter diesem musealen Schleier überhaupt noch etwas konkret wahrnehmen oder denken kann. Daher haben wir in Szenografie und Kostüm immer Dinge gesucht, die uns in ihrer konkreten Gestalt interessieren und in ihrer Verweisfunktion vielschichtig sind. Hinzu kommt, dass man auf diese Art vielleicht den historischen Kraftlinien sogar gerechter wird: Die Technik- und Geschwindigkeitsfaszination der 20er zum Beispiel verkörpert die giftgrüne Kawasaki Ninja für unsere heutigen Augen sicher besser als es eine historisch korrekte Klapperkiste täte.

Im Film gibt es nicht nur zahlreiche Anspielungen auf Romane, von Proust bis zu Bram Stoker, auch in seiner in vier Kapiteln angelegten Struktur mit jeweils eigenem Erzählton klingt die Romanform an. Wie wichtig war Literatur für die Entstehung des Drehbuchs?

Sprache spielt in meinen Filmen eine wichtige Rolle, und zwar auf eine Art, die nicht versucht, typische Sprechweisen naturalistisch abzubilden, sondern eher literatische Bezugspunkte hat. Aber auch die Fabulierlust meiner Plots hat literatische Inspirationsquellen. Dabei geht es aber nicht um Vorbilder, an denen ich mich konkret abarbeiten möchte, eher um ästhetische Erlebnisse, die mir auf die Sprünge geholfen haben, die meine Lust weckten, in eine bestimmte Richtung weiterzuprobieren. Aus dieser Perspektive betrachtet kollidieren in Blutsauger meine Eindrücke von drei literarischen Universen, übrigens alle aus den 1920ern: Die Figur von Ljowuschka steht für mich in Verbindung mit dem grotesken sowjetischen Schelmenroman von Ilja Ehrenburg („Das bewegte Leben des Lasik Roitschwanz“), Octavia mit Marcel Prousts Darstellungen der aristokratisch-großbürgerlichen Gesellschaft, die zwischen extremer subjektiver Verfeinerung und einer klassenspezifischen Form von Dummheit oszilliert, Jakob mit den sonderlichen Gehilfen, Dienern und Assistenten in den Romanen Robert Walsers. Das Vampir-Motiv wiederum ist nicht Bram Stoker (hab ich nie gelesen), sondern direkt dem „Kapital“ von Marx entnommen. Gleichzeitig hat das für mich nichts mit einem collagenhaften „Spiel mit Zitaten“ zu tun, denn der Versuch ist schon, trotz der Disparität der Elemente zu einer formalen Eigenständigkeit und Geschlossenheit zu kommen.

Aus Deinen bisherigen Filmen kennen wir bereits die Zusammenarbeit mit Laiendarsteller*innen, nun standen mit u. a. Lilith Stangenberg, Corinna Harfouch und Andreas Döhler bekannte „Profis“ vor der Kamera. Was hat Dich daran gereizt, den Cast so zu besetzen?

Ein idealer Cast beinhaltet für mich eine möglichst reiche Palette an Spiel- und Seinsweisen. Das ist der zentrale Kern und vielleicht die demokratische Utopie meiner Filmästhetik. Ausgangspunkt meiner Besetzung sind die Lai*innen, die meist aus dem Freundes- und Bekanntenkreis stammen, weil ich hier Schattierungen und Tonalitäten finde, die es bei ausgebildeten Schauspieler*innen nicht gibt. Auch viele Teammitglieder sind zu sehen. Das ist eine Art, meine persönliche Lebens- und Arbeitsrealität in den Film zu holen. Und eine gewisse Widerspenstigkeit. Für manche Rollen hingegen eignen sich Darsteller*innen besser, die einen sehr kontrollierten, souveränen Umgang mit ihrer Sprache, ihrer Erscheinung haben. Das passt oft zu Figuren, die sich bewusst inszenieren, einen sozialen Gestus kultivieren, mit Macht assoziiert sind. Meist sind das Schauspieler*innen, die ich auf der Theaterbühne gesehen habe. Wenn diese unterschiedlichen Darstellertypen aufeinandertreffen, entsteht für mich etwas sehr interessantes, weil sie einander in ihrer spezifischen Qualität zur Geltung bringen wie Komplementärfarben.

10.05.2022, 13:40

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