Liebevoll erzählt

Zum Film Nikos ist ein Schneider alter Schule. Tag für Tag sorgt er dafür, dass seine Schneiderei in der Athener Innenstadt staubkörnchenfrei bleibt. Doch es gibt kaum noch Kunden, die Wert auf eine persönliche Bekanntschaft mit ihrem Schneider legen ...
Ausgezogen, um Sehnsüchte zu erfüllen: Der Herrenschneider Nikos (Dimitris Imellos) verlässt seinen traditionellen Laden, um in denStraßen von Athen seine neue Kundschaft zu finden – die Frauen.
Ausgezogen, um Sehnsüchte zu erfüllen: Der Herrenschneider Nikos (Dimitris Imellos) verlässt seinen traditionellen Laden, um in denStraßen von Athen seine neue Kundschaft zu finden – die Frauen.

Foto: Neue Visionen Filmverleih

Nikos Karalis führt in Athen ein Herrenschneider-Geschäft, ein altes Traditionsgeschäft, übernommen von seinem Vater. Der stilvolle alte Laden mit seinen feinen Anzugstoffen und den schweren Holzregalen wirkt wie aus der Zeit gefallen. Seit die ökonomische Krise das Land fest im Griff hat und billige Massenwaren den Markt überschwemmen, gibt es kaum noch Männer in Athen, die ihr persönliches Schnittmuster bei einem teuren Herrenschneider liegen haben. Während Nikos‘ Vater Thanasis sich zu seiner Zeit noch eine elegante Wohnung leisten konnte, lebt Nikos heute zurückgezogen in der Werkstatt hinter seinem Laden.

Er arbeitet dort Tag für Tag allein, aber nicht einsam. Jeden Abend steht die kleine Tochter der Nachbarfamilie auf dem Balkon und gibt ihm mit der Taschenlampe Morsezeichen oder lässt ihm mit einer selbstgebastelten Seilbahn kleine Schiffchen aus Papier zukommen, auf denen steht, wann sie ihn besuchen will oder dass sie morgen ein Pausenbrot für die Schule braucht. Als die Bank wegen der ausbleibenden Tilgung der Kredite den Laden konfiszieren will und der Vater ins Krankenhaus muss, wird Nikos jäh aus seiner Weltabgewandtheit gerissen. Die Medikamente des Vaters und der Krankenhausaufenthalt müssen dringend bezahlt werden. Der Sohn muss sich was einfallen lassen.

Nach einigen erfolglosen Versuchen, an Geld zu kommen, beschließt Nikos dorthin zu gehen, wo die konsumfreudigen Menschen nun mal sind: auf den Markt. Dafür baut er sich mit gewohnter Präzision einen fahrbaren Stand. Aber die Erfahrungen auf dem Markt, eingeklemmt zwischen schreienden Gemüse- und Fischhändlern, sind ernüchternd. Die Kunden scheinen über die Preise des Herrenschneiders geradezu erschrocken. In den Straßen Athens wird er schließlich von einer Frau angesprochen, ob er nicht auch Hochzeitskleider nähe. Nikos lehnt zunächst vehement ab. Er hat schließlich seine Ehre als Herrenschneider zu verteidigen. Aber die Not lehrt ihn bald, über seinen Schatten zu springen.

Er sagt zu, obwohl sein Vater ihn dafür verachten wird und die Mutter der zukünftigen Braut ihn gnadenlos runterhandelt. Zu seinem Glück kann er seine Nachbarin davon überzeugen, ihm beim Zuschneiden von Damen-Kleidern zu helfen, die er preiswert auf dem Markt und in den Straßen verkaufen kann. Und so wird aus dem Herrenschneider Nikos mit Hilfe von Olga ein begehrter Schneider für Damenmode.

Von seinem ersten Geld kauft er ein kleines Motorrad, um fortan seinen Marktstand nicht mehr umständlich durch die engen Gassen Athens ziehen zu müssen. Aber nichtsdestotrotz ist die Arbeit als Hochzeitsschneider für Herrenschneider Nikos eine Herausforderung. Nach und nach verschwinden die grauen, gediegenen Woll-Stoffe aus seiner Werkstatt und machen nun Tüll, Spitze und Blumenmuster Platz. An die Neigung zu Pomp und Kitsch der Bräute in spe muss sich der puritanische Nikos, der die geraden, klaren Linien liebt, erst noch gewöhnen. Auch gegenüber dem Geldmangel seiner Kunden ist Nikos‘ kreative Seite gefragt. So rechnet er das Kleid einer Krankenschwester in Medikamenten für seinen kranken Vater ab und ein Fischhändler tauscht frischen Fisch gegen das Hochzeitskleid seiner Tochter.

Zwischen Seide und Brokat sitzt der eigenbrötlerische Nikos nun Nacht für Nacht mit Olga in seiner Werkstatt und näht mit ihr einträchtig an den Hochzeitskleidern, bis es fast zu dunkel ist, um noch etwas zu sehen. Beide genießen diese Zeit der Ruhe und der stillen Magie. Die Werkstatt wird bald auch zu Olgas Refugium vor der Welt. Zu Hause hat sie einen Haushalt auf engstem Raum zu führen, für einen Mann, der in allem das Gegenteil zu Nikos ist: grobschlächtig, hemdsärmelig und derb; ein Taxifahrer, den es zunehmend an die Ehre geht, dass seine Frau mehr Geld verdient als er. An einer Tankstelle macht er Nikos unmissverständlich klar, wie wenig er es schätzt, dass seine Frau bei ihm bis spät in die Nacht arbeitet.

Aber die Tage mit Olga bleiben für den schüchternen Mann mit den vornehmen Umgangsformen der Lichtblick in seinem Leben. Die beiden kommen sich schließlich auf einer Hochzeit, zu der sie als Schneider des Brautkleides eingeladen werden, näher. Sie verbringen die Nacht zusammen. In der Ferne zeigt Nikos ihr am Horizont des Meers das Haus, in dem er als Kind immer seine Ferien verbracht hat. Vielleicht liegt dort auch das Glück dieser beiden Anpassungskünstler, deren Anziehungskraft den Boden der Tatsachen schon längst hinter sich gelassen hat.

23.08.2021, 17:34

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