Warum hat der Schneeleopard in den letzten Jahren so viel Raum in Ihren Gedanken und auf Ihren Reisen eingenommen
Ich bin immer noch ein großes Kind, das sich von Träumen und Bildern von Fabeltieren ernährt. Ich habe den Schneeleoparden erstmals durch die Abenteuergeschichten des amerikanischen Biologen George Schaller entdeckt, der ihn in den 70ern Jahren fotografiert hatte. Als ich mich 2011 zum ersten Mal nach Tibet begab, hatte ich wenig Hoffnung, den Leoparden sehen zu können. Ich wusste aber, dass ich auf andere, ebenso mystische Tierarten stoßen würde, wie zum Beispiel die wilden Yaks, ein Totemtier aus einer anderen Zeit. Ich verbrachte also Monate in den Bergen, ohne den Schneeleoparden zu sehen. Aber ich entdeckte Spuren von ihm und es war aufregend zu wissen, dass er da war.
Was hat Sie veranlasst, so oft auf seine Spuren zurückzukehren?
Genauso wie in die Arktis, kehre ich gerne an dieselben Orte zurück... Ich entdecke sie gerne in meinem eigenen Tempo, Stück für Stück, auf meinem Weg, meistens allein. Es ist eine wahnsinnige Genugtuung für mich, langsam mehr über die Landschaft und die Tiere zu lernen, den Schleier der Wildnis zu lüften, sie zu verfolgen, sie zu beobachten.Ich habe es schon immer bevorzugt, mich mehrere Jahre am Stück auf ein Thema zu konzentrieren, anstatt von einem Bericht zum nächsten zu springen. Was Tibet anbelangt, war das bereits meine achte Reise, erst nur für Fotos, dann für ein Buch und dann kam der Wunsch in mir auf, zusammen mit einem kleinen Team aus 2-3 Personen – um die Tiere nicht zu stören – einen Film zu machen. Marie Amiguet hatte einen frischen Blick, eine einzigartige Sensibilität... und ich schätzte ihre „Leoparden-artige“ Diskretion. Ihre Aufgabe war es, uns zu folgen und sich dabei selbst zu vergessen, uns ohne jegliche Inszenierung zu filmen, um der Realität so nahe wie möglich zu kommen. Diese Methode bringt einige Ungeschicklichkeiten oder technische Schwächen mit sich, aber auch eine gewisse Authentizität der eingefangenen Momente. Das Ziel war es, die Emotionen einzufangen, die uns durchströmten.
Was hat Sie dazu gebracht, einen Schriftsteller ins Boot zu holen?
Ich wollte das Spektrum erweitern: Ich sammle seit Jahren diese Schönheit - und es ist meiner Meinung nach nicht genug. Ich möchte diese Erfahrung weitergeben und auf die Dringlichkeit hinweisen, dass wir von unserer menschlichen Arroganz, dieser Machtposition, in die wir uns über alles und alle anderen stellen, wegkommen müssen. Ich bin so erschüttert von dem Schicksal all dieser Tiere, die durch unser Verschulden in einen immer kleineren Lebensraum gedrängt werden. Aber es ist schwierig diese Dimension alleine durch Bilder zu vermitteln, also erschien es mir als notwendig, eine neue Sichtweise auf das Thema zu öffnen – durch einen Schriftsteller.
Und warum in diesem Fall Sylvain Tesson?
Sylvain und ich waren uns schon einige Male über den Weg gelaufen, und er hatte den Wunsch geäußert, mir auf der Suche zu folgen. Ich war vertraut mit seinen Abenteuerromanen, aber vor allem sein Buch „Sur les chemins noirs“ (in Deutschland nur im Original erhältlich) hatte es mir besonders angetan. Also lud ich ihn ein, meine Abenteuer mit einem Buch und dem Film abzuschließen. Es war mir, wie so oft, ein Anliegen, Brücken zu bauen, Wunder zu vermitteln und dem Rhythmus der Natur zu folgen. Es ging darum, den Austausch zwischen ihm und mir über den selben Traum zu filmen, aus verschiedenen Perspek-tiven und dabei die Tierbilder zu zeigen.
Sie sind es gewohnt, auf Ihren Abenteuern ganz alleine zu sein. Wie war es, ein ganzes Team dabei zu haben und wie hat sich Ihr Ansatz dadurch verändert?
Es war schon eine Umstellung und ich musste mich neu konditionieren. Wir waren aber auch selten alle zusammen. Es gab ein Basislager in der Talsohle, in der Nähe eines Flusses, von dem aus wir begonnen haben, alle zusammen mehrere Tage die Umgebung zu erkunden, um uns zurecht zu finden. Ich kannte mich zum Glück schon ein wenig in der Gegend aus. Nach dieser Anfangsphase teilten wir uns auf, um in kleineren, diskreten Grüppchen zu arbeiten.
Wart ihr sicher, dass ihr den Schneeleoparden treffen würdet?
Das Tolle an diesem Projekt war, dass sich alles von selbst ergab. Es war nicht von vornherein klar, dass diese Konstellation funktionieren würde. Und es gab absolut keine Garantie, dass Sylvain den Leoparden tatsächlich zu Gesicht bekommen würde. Und dann, in den letzten Tagen, tauchte er auf! Als ich aus dem Schlafsack und der Höhle herauskam und sah, wie der Schneeleopard seine am Vortag erlegte Beute fraß, das war ein unglaublicher Moment! Natürlich ist es unmöglich, im Voraus so ein Drehbuch zu erstellen.
Da wir gerade von glücklichen Fügungen reden: da hattet ihr ja noch eine, was die Filmmusik angeht, oder?
Ja, absolut! Wir hatten das große Glück mit Warren Ellis zusammenzuarbeiten, einem herausragenden Künstler, dessen minimalistische Musik ich schon lange sehr schätze. Wahrscheinlich hat es mit der weiten Wildnis und der magischen Erscheinung der Tiere zu tun, denen ich in Tibet begegnet bin. Ich träumte davon, eines Tages mit Warren Ellis an einem meiner Projekte zu arbeiten. Ich dachte, dieser Mann sei unnahbar, aber trotz seines vollen Terminkalenders willigte er ein, mit mir zu arbeiten und die Musik zum Film zu komponieren! Die Arbeit mit Warren war eine Bereicherung für mich, ich habe ihn als einen sensiblen und fürsorglichen Mann kennengelernt. Trotz unserer sehr unterschiedlichen Welten fanden wir viele Gemeinsamkeiten. Und dann schaffte er es auch noch, seinen alten Freund Nick Cave mit einzubeziehen. Nick Cave singt Tessons Texte, können Sie sich das vorstellen?
Erzählen Sie uns von Ihrer ersten Begegnung mit einem Schneeleoparden.
Was für ein Moment! Aber das Aufspüren ist das Spannendste: Spuren suchen, Hinweise lesen, tagelang mit dem Fernglas vor den Augen verbringen. Die Augen kleben quasi am Fernglas. Es ist so aufregend, ihn zu verfolgen! Der Schneeleopard hat eine kleine teuflische Seite in sich, die uns die ganze Zeit beobachtet, ohne dass wir ihn sehen können. Er zwingt uns, uns ein bisschen wie er zu verhalten: uns zu verstecken, uns zu tarnen, nicht aufdringlich zu sein... das ist es, was er uns beibringt. Beim ersten Mal steigerten sich die Dinge langsam wie bei einem Crescendo: erst alte Spuren, dann frische Spuren, der Schrei eines Raben, der auf die Anwesenheit eines Raubtiers in der Gegend hindeutet, und das sich ändernde Wetter, das die Tiere oft dazu bringt, sich zu bewegen - und nach langen, langen Beobachtungen fiel der Leopard quasi plötzlich in mein Sichtfeld. Er ging vorbei, ohne mich zu sehen! Es war wie ein perfekter Auftritt in einem Tierfilm. Und ich fühlte eine umso größere Befriedigung und Genugtuung, da ich ihn offensichtlich nicht gestört hatte.