Als Vincent Munier mir vorschlug, ihn im Winter nach Tibet zu begleiten, um den Schneeleoparden aufzuspüren, nahm ich mir erstmal etwas Zeit, um über dieses grandiose Angebot nachzudenken. Vincent machte mir das Geschenk, die Kunst des Beobachtens zu entdecken. Davor hatte ich mich immer damit begnügt, einfach nur durch die Landschaft zu ziehen. Im Laufe von Dutzenden von Reisen durch Asien habe ich mich daran gewöhnt, die Unendlichkeiten zu durchqueren und dem Horizont hinterherzulaufen. Kurz gesagt, ich folgte sonst immer den Wind.
Doch bei Vincent ist die Beziehung zu der Welt eine andere, es geht bei ihm nicht darum, die Etappen möglichst schnell zu absolvieren. Er wartet, er beobachtet, er analysiert - bis manchmal ein Tier vor seiner Linse auftaucht.
Ich erinnere mich an einen Abend als wir im Frühjahr unsere Reise vorbereiteten. Marie, Vincent und ich erkundeten eine Schlucht und Munier beeindruckte mich mit der Art und Weise, wie er die Landschaft betrachtete. Er las sie, wie man ein Gedicht liest. Er beobachtete die Felsvorsprünge und Wände, die Spalten und erklärte uns, was als nächstes passieren würde: „An dieser Stelle könnte der Leopard hineinschlüpfen; diese Höhle wird Waldkauzen gefallen; auf diesen Weiden grasen die Bharals.“ Ich verstand, dass es zwei Möglichkeiten gibt, wie man seine Umgebung betrachten kann.
Man kann – wie ich bis dahin – die Natur als kalter Ästhet betrachten, der über die Steinreliefs und die Nuancen des Lichts philosophiert. Man kann sich aber auch – wie Vincent - in die Lage des Tiers versetzen, indem man die Verstecke, die Falten und die Öffnungen der Landschaft analysiert. Dann wird ein Berg plötzlich zu einer lebenden Zitadelle mit riesigen Zugbrücken, über die Kaiserinnen im Pelzmantel schreiten. Munier war mein Lehrer, er brachte mir das Lesen bei – zum zweiten Mal in meinem Leben.
– Kommentar von Sylvain Tesson