Kriegsdrama aus weiblicher Perspektive

Zum Film Packend: „Der verlorene Film“ von der Regisseurin Saskia Diesing ist eine stark gespielte Hommage an die Widerstandsfähigkeit der Frauen sowie eine zeitlose Geschichte über Menschlichkeit und Vergebung
Anna Bachmann in „Der verlorene Zug“ von Saskia Diesing
Anna Bachmann in „Der verlorene Zug“ von Saskia Diesing

Foto: W-FILM / Ricardo Vaz Palma

Frühjahr 1945: Kurz vor dem Kriegsende strandet ein Deportationszug Richtung Theresienstadt mit über zweitausend jüdischen KZ-Gefangenen mitten auf einer Weide. Der Zugführer koppelt die Lok ab und flüchtet mit den anderen deutschen Soldaten vor der Roten Armee, die bereits das nahegelegene deutsche Dorf Tröbitz besetzt hat. Die ausgehungerten Menschen im Zug sind sich selbst überlassen und auf Hilfe aus dem Ort angewiesen. Als auch noch Typhus ausbricht, wird Tröbitz von der russischen Besatzung unter Quarantäne gestellt – niemand kommt rein, niemand raus. In dieser verzweifelten Situation voll von Misstrauen und Rachegelüsten erwächst eine unerwartete Freundschaft zwischen der jüdischen Niederländerin Simone (Hanna van Vliet), der jungen Deutschen Winnie (Anna Bachmann) und der russischen Scharfschützin Vera (Eugénie Anselin).

Historischer Hintergrund

Während der Nazi-Besatzung wurde im jüdischen Durchgangslager Westerbork zwischen mehreren Arten von Konzentrationslagern unterschieden. Mauthausen war als Vernichtungslager gefürchtet. Auschwitz hingegen war als Zwangsarbeitslager angesehen. Die dortigen Gaskammern waren ein streng gehütetes Staatsgeheimnis. Zwei Lager galten als die Lager mit den „besten“ Bedingungen: das Ghetto für ältere jüdische Menschen in Theresienstadt und das Austauschlager Bergen-Belsen, in dem es keine Gaskammern gab. Die in Bergen-Belsen inhaftierten Jüdinnen und Juden wurden von den Nazis als „Austauschjuden“ bezeichnet, da sie gegen im Ausland gefangen gehaltene deutsche Staatsbürger*innen oder gegen harte Währungen eingetauscht werden konnten. Diese Häftlinge wurden zunächst gut ernährt, trugen Zivilkleidung, waren nicht tätowiert und mussten nur gelegentlich Zwangsarbeit leisten. Ein tatsächlicher Austausch von Gefangenen fand nur wenige Male statt. Gegen Ende des Krieges verschlechterten sich die Bedingungen in Bergen-Belsen und die Nazis begannen, Häftlingsgruppen zu verlegen.

Wenige Tage vor der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen am 15. April organisierten die Nazis in aller Eile einen Transport ausgewählter jüdischer Häftlinge mit dem Ziel, sie nach Theresienstadt zu verlegen. Bei der Deportation dieser Häftlinge wurden zwischen dem 6. und 11. April drei Züge mit insgesamt rund 6.800 Menschen beladen. Der erste Transport wurde am 13. April von amerikanischen Truppen in der Nähe von Magdeburg befreit. Ein zweiter Zug mit überwiegend ungarischen Jüdinnen und Juden an Bord traf am 26. April 1945 in Theresienstadt ein. Es ist nicht bekannt, was aus den Deportierten geworden ist. Nachdem sie mehr als zwei Wochen lang durch die noch nicht von den Alliierten besetzten Teile Deutschlands gefahren waren, blieb der letzte dieser Züge in Tröbitz, einem kleinen Dorf in Brandenburg, auf offener Strecke liegen. Die deutsche Besatzung zog sich zurück. Am 23. April stießen die vorrückenden sowjetischen Truppen auf

den Zug. Sie befreiten die Gefangenen, darunter 1.500 Niederländer*innen, die von den deutschen Besatzern als Juden eingestuft worden waren.

Zunächst vertrieben die russischen Besatzungstruppen die deutschen Einwohner*innen, die nicht aus dem Dorf geflohen waren – meist Frauen und Kinder – aus ihren Häusern, um Platz für die Menschen aus dem Zug zu schaffen. Doch nachdem sie eine Nacht im nahegelegenen Wald verbracht hatten, kehrten viele von ihnen in ihr Dorf zurück, das völlig verwüstet worden war. Die Rote Armee befahl ihnen, die Überlebenden zu beherbergen und die Kranken zu versorgen. Bald sah sie sich gezwungen, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um die Ausbreitung einer im Zug ausgebrochenen Typhusepidemie zu verhindern. Das Dorf wurde unter Quarantäne gestellt: Niemand durfte das Dorf betreten oder verlassen. Es dauerte acht Wochen, bis die Epidemie unter Kontrolle war. Das Feldlazarett wurde von sowjetischen Sanitätern und jüdischen Ärzten aus dem Zug geleitet. Frauen und Mädchen aus dem Dorf wurden als Krankenschwestern rekrutiert. In der Zwischenzeit schickte Moskau eine Delegation in das Dorf, um die ehemaligen jüdischen Häftlinge für eine mögliche Auswanderung in die Sowjetunion zu "begeistern".

Trotz der Quarantänemaßnahmen gelang es zwei ehemaligen jüdischen Widerstandskämpfer*innenn, Mirjam und Menachem Pinkhof, am 13. Mai 1945, Tröbitz mit dem Fahrrad zu verlassen, die Elbe zu überqueren und am 18. Mai den Amerikaner*innen ein Memorandum zu übergeben, das für das Außenministerium in Den Haag bestimmt war. Es enthielt einen Bericht über diesen dritten Zug und die Umstände der Geretteten. Die amerikanischen Verbindungsoffiziere setzten sich daraufhin mit den sowjetischen Armeelagern in Verbindung und reisten nach Tröbitz, um den Inhalt des Memorandums zu überprüfen und die Repatriierung einzuleiten. Am 16. Juni 1945, noch vor Aufhebung der Quarantäne, begannen die Amerikaner mit der Rückführung der Überlebenden. Schlussendlich starben während der Zugfahrt und in den folgenden Wochen über 550 Menschen. Darunter auch einige Einwohner*innen von Tröbitz und mehrere russische Ärzte, die an Typhus erkrankt waren.

17.04.2023, 18:10

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