Der verlorene Zug ist ein Kriegsdrama, das aus der Perspektive dreier Frauen erzählt wird. Es ist ein Film über den Krieg, der noch nicht ganz vorbei ist. Ein Film, der uns die menschliche Anstrengung und die Widerstandsfähigkeit zeigt, die es braucht, um Ressentiments, Wut und Misstrauen zu überwinden und um die eigene Menschlichkeit wiederherzustellen.
Neun von zehn Filmen über den Zweiten Weltkrieg werden von Männern erdacht, geschrieben, inszeniert und produziert. In der Regel stellen sie auch Männer dar, vorzugsweise als Helden, gelegentlich als Opfer und jüngst auch zunehmend als Täter.
In diesem Film geht es aber um Frauen. Er wurde von einer Frau erdacht und geschrieben und wird auch zu einem großen Teil von Frauen produziert. Wird das einen Unterschied machen? Vielleicht nicht. Vielleicht ist das Geschlecht irrelevant, wenn es um Krieg geht, oder um das Filmemachen im Allgemeinen. Aber vielleicht wird es das eben doch. Denn Frauen erleben den Krieg auf andere Weise und haben daher vielleicht andere Dinge über den Krieg zu erzählen. Über Mitgefühl zum Beispiel. Mitgefühl beginnt damit, dass man das Leben aus der Sicht eines anderen Menschen versteht. Es ist nicht etwas, das einfach so entsteht. Mitleid vielleicht, aber Mitgefühl oder Empathie ist nicht dasselbe wie Mitleid. Mitgefühl ist eine Perspektive, eine Lebenseinstellung, und, vielleicht am wichtigsten: Mitgefühl ist eine Entscheidung.
Doch warum sollte man mehr von den Leiden des Krieges sehen? Diese Frage stelle ich mir jedes Mal, wenn ich von wahren Begebenheiten lese: „Wie konnte das nur passieren?“ Zum Beispiel, wenn ich die historischen Fotos und Filme von der Befreiung von Bergen-Belsen betrachte, von der öffentlichen Hinrichtung von Partisanenmädchen in Weißrussland, die kaum mehr als Kinder waren; oder wenn ich deutschen Frauen zuhöre, die während der Schlacht um Berlin tagelang von der Roten Armee vergewaltigt wurden.
In diesen von Polarisierung, Misstrauen und Unsicherheit geprägten Zeiten verspürte ich mehr denn je das Bedürfnis, diese Geschichte zu erzählen. Denn aktuell sind wir erneut mit einem verheerenden Krieg in Europa konfrontiert. Und ich glaube, dass wir uns dringend daran erinnern müssen, dass Krieg, egal aus welcher Perspektive man ihn betrachtet, unweigerlich die Würde des Menschen zerstört.
Mein Onkel Eddy Marcus (1944-2011) war damals kaum ein Jahr alt, als er den verlorenen Transport zusammen mit seinen Eltern und zwei Brüdern überlebte. Erst bei seiner Beerdigung erfuhr ich erstmals diese Geschichte. Ich fühle eine große Verantwortung gegenüber den Vorkommnissen und mir ist bewusst, dass ein Film niemals der Verzweiflung, der Krankheit und dem Tod derjenigen gerecht werden kann, die damals dazu gezwungen waren, das mitzuerleben. Aus diesem Grund ist es wichtig zu betonen, dass der Film zwar von den Ereignissen rund um den verlorenen Zug inspiriert ist, die Geschichte und die Charaktere aber völlig fiktiv sind. Der Schwerpunkt liegt weniger auf der Gewalt, dem Elend und den Gräueltaten als vielmehr auf der Entschlossenheit, der Hingabe und dem Mitgefühl der drei Frauen.
Meiner Ansicht nach spielten die Frauen nach der Befreiung eine entscheidende, aber grundlegend andere Rolle als die Männer. Millionen von Frauen hatten ihre Ehemänner und Söhne verloren. Viele von ihnen, auch ihre Töchter, waren vergewaltigt und gedemütigt worden. Aber sie taten das, was Frauen seit Jahrhunderten tun: Die Scherben aufsammeln und weitermachen.
Wenn unsere Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs, der ein so wesentlicher und schmerzhafter Teil unserer europäischen Geschichte ist, auch von der weiblichen Perspektive geprägt wird, bietet uns dies in meinen Augen die Möglichkeit, zu alternativen Erzählweisen und Einsichten zu gelangen, die ebenso wertvoll sind.
In diesem Sinne kann dieser Film als eine Hommage an all die Frauen gedeutet werden, die nach dem Krieg ihre Putzlappen und Besen in die Hand nahmen, um in aller Stille die Trümmer und das Blut wegzukehren, während die Männer damit anfingen, die Geschichtsbücher zu schreiben.