„Carl Schrades Leben hat mich fasziniert“

Interview Für „Der Zeuge“ schrieb Michael Lade nicht nur das Drehbuch, er führte auch Regie und übernahm die Rolle Carl Schrades. Im Gespräch erzählt er von der Entstehung der Idee für den Film und warum es für ihn wichtig war, ihn zweisprachig zu drehen
Szene aus „Der Zeuge“ von Bernd Michael Lange
Szene aus „Der Zeuge“ von Bernd Michael Lange

Foto: Neue Visionen Filmverleih

Wie ist die Idee zu DER ZEUGE entstanden?

Ich habe irgendwo ein Foto dieser improvisierten Prozesse direkt nach der Befreiung gesehen mit hastig aufgehängten USA-Fahnen und zum Gerichtssaal umfunktionierten Lagerhäusern oder Kellerräumen. Das hat mich fasziniert und schnell kam auch der Name Carl Schrade auf. Nachdem ich mich in seine Geschichte eingelesen hatte, wollte ich unbedingt einen Film über ihn machen.

Die Geschichte basiert auf realen Gerichtsprotokollen und den Memoiren ihres Protagonisten Carl Schrades, zusammengefasst in einem Gerichtsprozess. Wie sind Sie auf diese Quellen gestoßen?

Ich hatte natürlich eine Menge an Archivmaterial vorliegen. Außerdem hatte ich „Die Moorsoldaten“ von Wolfgang Langhoff gelesen und wollte das unbedingt mit im Film verarbeiten. Diese Generation, die im KZ war, ist schließlich auch für Menschen wie mich durch die Hölle gegangen. Deshalb wollte ich sie auch in DER ZEUGE repräsentieren und ihnen ein filmisches Denkmal setzen. Da ich selbst Regie geführt und auch das Drehbuch geschrieben habe, konnte ich alles mit in den Film nehmen, was mir persönlich wichtig war.

Die meisten Protagonisten von DER ZEUGE verkörpern anspruchsvolle Rollen als Handlanger des NS-Regimes. Wie lief das Casting und der Entscheidungsprozess für die Schauspieler ab?

Ein richtiges Casting gab es gar nicht. Eigentlich stammen alle Schauspieler von der „Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch“, wo ich ebenfalls studiert habe. Ich habe einfach angefragt, wer Lust hätte, bei diesem Projekt mitzumachen. Dadurch hatte ich einen Pool an wunderbaren Schauspielern. Der Dreh war dann wie eine Art Klassentreffen.

Sie selbst verkörpern die Hauptrolle des Carl Schrade. Wie haben sie sich auf die Rolle vorbereitet und war die Doppelbelastung Regie/Hauptdarsteller schwer?

Die Figur des Carl Schrade hatte ich bereits jahrelang im Kopf und habe gedanklich immer wieder an ihr gearbeitet. Zwar hatte ich keine direkten Infos zu seiner Persönlichkeit oder ähnlichem, aber ich hatte doch ein für mich sehr klares Bild von seinem Schicksal. Das kam auch daher, dass wir als Kinder in der DDR natürlich häufig mit der Schule im KZ waren und dann dort viel über die Bedingungen im Lager gelernt haben. Das Einfühlen war, wenn man so will, einer der Kernaspekte meiner schulischen Erziehung. Also hatte ich ein sehr klares Bild meiner Rolle im Kopf und da ich sie ja auch selbst geschrieben habe, war es relativ leicht. Die Doppelbelastung aus Regie und Hauptrolle war natürlich etwas besonderes, aber da ich schon wirklich lange an der Rolle gearbeitet hatte, war es machbar. Zudem hatte ich ein wunderbares Ensemble und ein Team, dass das Wagnis diesen Weg mit mir zu gehen einging. Danke!

Mit Ilse Koch sitzt auch eine reale Figur mit auf der Anklagebank, die zu den berüchtigtsten Figuren des KZ-Systems zählt. Wie haben Sie sich dieser bizarren, widersprüchlichen und grausamen Frau bei der Vorbereitung auf den Film genähert?

Natürlich ist Ilse Koch sehr bekannt und berüchtigt, auch ich kannte ihre Geschichte und die Bilder des Prozesses gegen sie. Also habe ich versucht, mich ihr auf etwas andere Weise zu nähern. In DER ZEUGE lasse ich sie Goethes „Werther“ zitieren und zeige sie als apathisch entrückt und in ihrer eigenen Welt lebend. Mit dieser autorischen Spitzfindigkeit und der Diskrepanz zwischen deutscher Hochkultur und den entsetzlichen Taten dieser Frau wollte ich das Monsterhafte in ihrem Charakter in sehr kurzer Zeit aufzeigen.

DER ZEUGE spricht viele Gräueltaten der Nazis laut aus und legt den Finger durch die Aussagen der Täter vor Gericht in die Wunde. Waren diese abscheulichen Themen eine Belastung während der Dreharbeiten?

Also, wenn man sich auf derartige Rollen wirklich voll einlässt, dann ist das immer belastend. Gerade bei mir. Ich bin überzeugter Pazifist und Gewaltdarstellungen, egal in welcher Form, sind für mich immer sehr schwer gewesen. Trotzdem wollte ich diesen Film machen, auch wenn mir angesichts der Brutalität der realen Grundlage fast die Tränen kamen. Als Schauspieler und gerade als Regisseur muss man da dann einfach ein dickes Fell haben und sich zu kühler Sachlichkeit zwingen. Sonst ist man nicht in der Lage sich zu konzentrieren und die Rolle glaubhaft zu vermitteln.

Wie ist die cinematographische Idee entstanden, den Gerichtsprozess in der dialektischen Form zu gestalten und Aussagen der Täter und Opfer gegenüber zu stellen? Welchen Ursprung und filmischen Grund hat die Übersetzung der Dialoge durch die Gerichtsreporterin?

Die künstlerische Form der dialektischen Gegenüberstellung der Aussagen des Zeugen und der Angeklagten passte für mich sehr gut zur inhaltlichen Ebene eines Gerichtsprozesses. Ich wollte einen aufs Wesentliche reduzierten Film machen, in dem keine Störgeräusche vom Blick auf das menschenverachtende System hinter den Vernichtungslagern ablenkt. Der Ankläger und die Richter bleiben komplett stumm, denn die Fragen des Gerichts implizieren sich beim Zuschauer von selbst durch die Aussagen von Tätern und Opfern.

Die Idee der Übersetzung kam daher, mit einen Inneren Widerhall die Aussagen fühlbar zu machen. Mit Maria Simon und Ihrer einzigartigen Durchlässigkeit und Tiefe war sie die ideale Besetzung. Als Gerichtsreporterin hat sie die anspruchsvolle Aufgabe als Bindeglied und emotionale Projektionsfläche zwischen Zuschauer und Film zu fungieren. Ihre Arbeit war hervorragend.

In der deutschen Geschichte gibt es bereits viele Filme, die sich diesem Thema widmen. Was ist das Besondere an DER ZEUGE?

Das Besondere ist der Protagonist Carl Schrade. Er gehörte nicht zu den Menschen, die von den Nazis entrechtet und verfolgt wurden. Er ist vor seiner Inhaftierung ein halbseidener Geschäftsmann gewesen und saß als einfacher Krimineller im KZ. Seine Sicht auf das System der Konzentrationslager ist eine einzigartige, da er als Häftlingsvorsteher und sogenannter „Grüner Kapo“ gewissermaßen Täter und Opfer zugleich war.

Carl Schrades Leben hat mich auch deshalb fasziniert, weil er in meinen Augen durch und durch ein Kosmopolit war. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs ging er nach Paris zurück und reiste als Handelsvertreter um die ganze Welt. Deshalb habe ich ihn auch englisch sprechen lassen, da ich wusste, dass viele ehemalige KZ-Häftlinge dem Deutschen abgeschworen hatten.

DER ZEUGE stellt geschickt die Frage nach Schuld und Unschuld auch seitens der KZ-Insassen, die mit dem System „kooperierten“, um zu überleben. Wie sehen Sie persönlich diese Frage nach der Unschuld?

Zum Glück war ich noch nicht in der Situation und kann das nur von außen betrachten. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass die Moral immer oberste Priorität hat. Wer einen anderen schlägt, erniedrigt oder sogar tötet, der macht sich schuldig. Wer sich einreiht und einfach mitmacht, wenn Unrecht geschieht, ist schuldig. Deshalb ist es für mich als Menschen immer extrem wichtig sich in jeder Situation zu hinterfragen: Mache ich bei sowas mit? Wann stelle ich etwas in Frage und wann leiste ich Widerstand?

27.02.2023, 13:27

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