„Juliette war eine unverhoffte Entdeckung“

Interview Der Regisseur Pietro Marcello spricht im Interview zum Film über seine Beweggründe Alexander Grins Roman zu verfilmen, die unverhoffte Entdeckung der Schauspielerin Juliette Jouan und erklärt, warum er „Die Purpursegel“ als femininen Film sieht
Still aus „Die Purpursegel“ (Regie: Pietro Marcello)
Still aus „Die Purpursegel“ (Regie: Pietro Marcello)

Foto: CG CINÉNEMA / Piffl Medien

„Die Purpursegel“ basiert auf dem Roman von Alexander Grin. Was in diesem Roman hat den Ausschlag dafür gegeben, ihn als Film zu adaptieren?

Die Idee, „Die Purpursegel“ als Film zu adaptieren, kam ursprünglich nicht von mir. Mein Produzent Charles Gillibert und sein Kollege Romain Blondeau hatten mir – neben anderen Vorschlägen – empfohlen, den Roman zu lesen. Alexander Grin war ein Abenteuerschriftsteller, geboren Ende des 19. Jahrhunderts, ein revolutionärer Sozialist, der seine literarische Laufbahn nach der Revolution von 1905 begann und wegen seiner politischen Aktivitäten mehrfach verhaftet wurde. Seine erfolgreichsten Werke erschienen nach der Oktoberrevolution, aber trotz ihres Erfolges passte der antimilitaristische und romantische Ton seiner Bücher nicht in die neue Zeit. Die Verleger stellten seine Veröffentlichungen ein. Er starb als Ausgestoßener in großer Armut.

Was mich von Anfang an an dem Roman interessiert hat, war die Beziehung zwischen Vater und Tochter. Die Mutter stirbt, und der Vater muss sich um das Kind kümmern. Die Verbindung, die zwischen den beiden entsteht, hat mich fasziniert. Und es hat mich noch mehr fasziniert mir vorzustellen, was passiert, wenn der Vater stirbt. Im Roman wechselt das Mädchen von einem Mann, ihrem Vater, zu einem anderen, ihrem Ehemann, der wie ein Märchenprinz in ihr Leben tritt. Ich wollte, dass sich die Dinge in meinem Film anders entwickeln. Der Mann, der im Film auftaucht, ein Flieger und Abenteurer, ist ganz und gar kein Märchenprinz. Jean ist für mich der Prototyp des modernen Mannes, im Gegensatz zu Raphaël, der wie ein Fels ist. Jean ist fragil, instabil, eine Art Draufgänger, der nicht weiß, wo sein Platz in der Welt ist. Juliette lässt sich nicht von ihm erretten wie eine in Not geratene Prinzessin. Sie ist es, die den ersten Schritt macht, die ihn küsst, die sich um ihn kümmert und ihn schließlich gehen lässt.

Es gab ein zweites Element des Romans, das mich beeindruckt hat, nämlich diese seltsame Patchworkfamilie, in die der Vater nach dem Tod seiner Frau aufgenommen wird. Das war etwas sehr Unerwartetes, sehr Modernes. Es trug die Möglichkeit in sich, eine kleine matriarchale Gemeinschaft von Ausgestoßenen zu schaffen. Die Dorfbewohner im Film nennen diese matriarchale Familie den „Cour des Miracles“, den „Hof der Wunder“. Er wird gebildet aus einer kleinen Gruppe von Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben: Die Chefin des Gehöfts, die verdächtigt wird, eine Hexe zu sein, der Schmied, seine Frau und ihre Tochter, Raphaël und Juliette. Sie sind alle, aus dem einen oder anderen Grund, Ausgestoßene.

Könnte man „Die Purpursegel“ einen feministischen Film nennen?

Ich würde ihn lieber einen „femininen Film“ nennen – ähnlich wie die meisten meiner früheren Filme in gewisser Weise „maskulin“ waren. Die Referenzen in „Martin Eden“ waren der schwedische Gewerkschafter Stig Dagerman und der neapoletanische Anarchist Enrico Malatesta. Wenn jetzt „Die Purpursegel“ mit einem Gedicht der Kommunardin Louise Michel endet, bleiben wir also auf anarchistischem Terrain, aber der Blickwinkel verändert sich, vom Maskulinen zum Femininen. Es ist ein Film, der sich auf die Seite der Frauen stellt.

Die Figur des Fliegers Jean ist nicht der einzige Unterschied zum Roman. Bei Grin stirbt die Mutter an einer Lungenentzündung, im Film an Unterkühlung nach einer Vergewaltigung.

Ich wollte das Thema des Feminizids aufgreifen, das im Roman tatsächlich nicht vorkommt. Zusammen mit den Autoren Maurizio Braucci und Maud Ameline haben wir vieles verändert. Renaud wiederholt das Verbrechen seines Vaters Fernand, wenn er erfolglos versucht, Juliette zu vergewaltigen. Das ist weniger eine Frage der Nachfolge als eine der Gewöhnung: Fernand wurde damals für sein Vergehen nicht verurteilt, nicht einmal beschimpft. In einer solchen Kultur wird die Vergewaltigung zu einer Art von Fatum, das über eine Generation nach der anderen hereinbricht.

Die große Entdeckung des Films ist Juliette Jouan in der Rolle der erwachsenen Juliette.

Juliette Jouan war eine unverhoffte Entdeckung. Ich hatte Hunderte von Castings gemacht, in ganz Frankreich, bevor ich ihr begegnet bin und mich, kinematografisch gesprochen, gleich verliebt habe. Sie ist eine außergewöhnliche junge Frau, sie singt, sie schreibt, sie hat eine unglaubliche Stärke in sich. Sie hat enorm viel zur Entwicklung ihrer Figur im Film beigetragen, sie hat zum Beispiel die Musik zum Gedicht L‘Hirondelle von Louise Michel mit komponiert. Das war im Drehbuch eigentlich gar nicht vorgesehen, sondern hat damit zu tun, dass wir am Set des „Cour des Miracles“ zufällig einen Gedichtband gefunden hatten. Mit „L’Hirondelle“ aufzuhören, erschien uns dann perfekt für das Ende des Films. Es ist Juliette zu verdanken, dass das Gedicht zu dem Lied wurde, das jetzt den Abspann des Films begleitet.

Wie kam es, dass Sie Ihren neuen Film in Frankreich und in französischer Sprache gedreht haben?

Ich bin vor zwei Jahren mit meiner Tochter nach Paris gezogen. Ich hatte damals gerade „Martin Eden“ beendet und war mit zwei Projekten beschäftigt, die mir sehr am Herzen lagen, „Lucio“ über den großen Sänger Lucio Dalla und „Futura“, einen gemeinsamen Film mit Francesco Munzi und Alice Rohrwacher. Sechs Monate nach meiner Ankunft in Paris fing ich dann schon mit den Dreharbeiten von „Die Purpursegel“ in der Picardie an. Es war ein Abenteuer mit etlichen Herausforderungen. In Italien kann ich mich auf ein Netzwerk von Kontakten in der Filmwelt stützen, ich weiß, an wen ich mich wenden muss, wenn ich dieses oder jenes brauche. In Frankreich war ich zunächst auf mich allein gestellt. Ich habe meinem Produzenten vertraut und bin ins kalte Wasser gesprungen. Aber im Grunde genommen ist „Die Purpursegel“ ein Film, der überall hätte gedreht werden könne, auch in Kalabrien oder Kampanien.

Ihr Film ist tief in der lokalen Kultur einer bäuerlichen Gemeinschaft verwurzelt – und doch sagen Sie, dass er auch woanders spielen könnte?

Jeder Film wurzelt natürlich am Ende in der Umgebung und dem sprachlichen und kulturellen Kontext, in dem seine Geschichte spielt. Aber die Essenz von „Die Purpursegel“ liegt im ländlichen Leben im Allgemeinen. Auch die Beziehung zwischen dem Vater und seiner Tochter und all den Ausgestoßenen in dieser matriarchalen Gemeinschaft hat etwas Universelles. Es ist eine Geschichte, die mit dem „Süden“ überall in der Welt verbunden ist – und ich schaue immer in den Süden, weil er mir vertrauter ist.

Ebenso wie „Martin Eden“ ist auch „Die Purpursegel“ ein historischer Film.

Ich bin der Ansicht, dass es eigentlich nicht mehr möglich ist, „historische Filme“ zu machen. Historische Kulissen zu bauen, ist finanzieller Irrsinn. Außerdem verschwinden das Knowhow, die Handwerker dafür. Im Film ist die Figur des Raphaël emblematisch für dieses Verschwinden. Es gibt keine Vorlage, wir müssen jedes Mal neue Lösungen finden und uns anpassen. Auch wenn „Martin Eden“ in der Vergangenheit spielt, hat er mit „Die Purpursegel“ kein wirkliches Modell gemeinsam, nur eine bestimmte Methode. Rossellini oder Bresson haben uns Methoden hinterlassen, von denen man alles lernen kann, was man braucht, um Filme zu machen. Aber das sind keine Schablonen, keine Modelle, die man nachmachen kann. Keine Schablonen: Das ist die Methode!

Wir sind den Film mit Marco Graziaplena, dem Kameramann, fast wie einen Dokumentarfilm angegangen. Wir wollten mit der Schnelligkeit und Frische drehen, die Fassbinder immer gefunden hat. Alles, was beim Drehen passierte und entstand, haben wir eingefangen und gefilmt. Es gibt Leute, die meinen, ein Film sei gelungen, wenn er ein gutes Drehbuch getreu umsetzt, aber das ist nicht meine Methode. Die ursprüngliche Absicht zählt nicht viel. Nehmen wir an, ich wollte einen Film über die Emanzipation der Frau machen. Wer bin ich, um zu entscheiden, wie sich Juliette emanzipiert? Vorzugeben das zu wissen, würde einen falschen Film ergeben. Umgekehrt kann ein Film etwas Wahrhaftiges zeigen, wenn es ihm gelingt, Elemente der Wirklichkeit in die Fiktion zu integrieren, so wie das Gedicht, das wir in dem Gehöft gefunden hatten und das Juliette vertont hat.

Wie in Ihren früheren Filmen verwenden Sie auch in „Die Purpursegel“ Archivmaterial, das Sie in die Erzählung einbetten.

Die Bilder gleich zu Beginn des Films, die wir parallel zu Raphaëls Rückkehr ins Dorf montiert haben, sind Aufnahmen vom Tag des Waffenstillstands an der Somme. Später im Film, wenn Raphaël und Juliette in die Stadt fahren, haben wir Ausschnitte aus Julien Duviviers Film „Au Bonheur des dames“ von 1930 verwendet. Aber es ist kein Film mit vielen Archivbildern. Diese Bilder, vor allem die aus dem Film von Duvivier, waren notwendig, weil es heute unmöglich ist, eine Stadtkulisse aus der Zwischenkriegszeit zu rekonstruieren. Es wäre viel zu teuer und zu komplex. Soll man Millionen für zwei oder drei Aufnahmen ausgeben? Wäre das vertretbar? Ich kann die gleiche oder sogar höhere emotionale Intensität mit Bildern erzeugen, die es schon gibt.

Ohne Raphaël Thiéry wäre dieser Film nicht derselbe.

Wie bei Juliette hat auch das Casting für Raphaël sehr lange gedauert. Ich hatte eine genaue Vorstellung davon, was ich wollte. Ich wollte jemanden, dessen massige physische Präsenz mit der Zartheit seiner kleinen Tochter kontrastiert. Ebenso gesetzt war die Vorstellung von der Beschaffenheit der Hände, die dick und rau sein mussten, damit man von der Feinheit der Gesten, zu denen sie fähig sind, überrascht wird. Als mein Produzent mir schließlich Raphaël Thiéry vorschlug, wusste ich sofort: „Der ist es.“

Neben Juliette Jouan und Raphaël Thiéry spielen sehr bekannte Gesichter des französischen Kinos, Noémie Lvovsky, Louis Garrel, Yolande Moreau.

Ich muss sagen, dass wir mit allen Schauspielern, mit jedem und jeder, eine gleichzeitig professionelle und freundschaftliche Beziehung hatten. Noémie Lvovsky hat den Film so an die Hand genommen, wie ihre Figur Adeline es mit dem „Hof der Wunder“ im Film macht, mit einer unglaublichen Leidenschaft. Louis Garrel ist ein erfahrener Schauspieler, mit einem großen Wissen und einer tiefen Liebe zum Kino, wir hatten sofort einen lebendigen Austausch. Und Yolande Moreau im Film zu haben, war ein wertvolles Geschenk.

Im Verlauf des Films wechselt die Tonlage vom Realismus zu einem leichteren Ton, der manchmal fast an ein Musical erinnert. Die Inszenierung unterstützt diese Entwicklung, anfangs vor allem mit einer beweglichen Kamera, im zweiten Teil mit Einstellungen, die an Filme von Jacques Demy erinnern.

Meine Schauspielerinnen hatten Lust zu singen. Also habe ich gedacht: Warum nicht? Ich habe eine Leidenschaft für die Filme von Jacques Demy, die mit meiner eigenen Interpretation zu tun hat. „Les Parapluies de Cherbourg“ oder „Une chambre en ville“ sind sehr raffinierte, ausgeklügelte Filme, aber für mich haben sie auch eine volkstümliche Seele. Demy hat die italienische Operette ins Kino übertragen. Seine Filme sind immer sehr nah an den Menschen. Ich habe eigentlich keine Vorbilder im Kino, ich liebe Jacques Demy ebenso wie andere Filmemacher. Was mich wirklich interessiert, ist die Methode.

Die Originalmusik wurde vom Oscar-Preisträger Gabriel Yared komponiert. Sie haben zum ersten Mal mit einem Komponisten zusammengearbeitet.

Die Zusammenarbeit mit Gabriel Yared war in der Tat eine völlig neue Erfahrung für mich, und sie war sehr wichtig für den Film. Er ist ein außergewöhnlicher Mensch und ein großer zeitgenössischer Komponist. Er war von Anfang an dabei, wir haben viel miteinander gesprochen und ich habe viel von ihm gelernt. Für mich ist es wichtig, mit Menschen zu arbeiten, zu denen ich eine persönliche Beziehung aufbauen kann, die auf Wertschätzung und Freundschaft beruht. Das war bei diesem Film oft der Fall. Die Zusammenarbeit mit Marco Graziaplena zum Beispiel, dem Kameramann, den ich seit vielen Jahren bewundere, war von unschätzbarem Wert. Und ohne die Editorin Carole Le Page wäre der Film nicht derselbe geworden. Ihr kartesischer Geist war absolut grundlegend für die Montage von „Die Purpursegel“.

Ich habe eine Leidenschaft für das Handwerk des Kinos und des Filmemachens. Ich sammle alles mögliche Material. Ich kann Filme selbst entwickeln und meine eigenen Chemikalien herstellen. Ich könnte eine Art produktive Autarkie erreichen und alles selbst machen. Aber es macht viel mehr Freude, in einer Gemeinschaft zu arbeiten, an einem Film, zu dem jeder etwas beiträgt. Kino macht man mit seinen Freunden, wie Renoir sagte. Ist das noch möglich?

01.07.2023, 14:50

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