„Die Realität ist härter als im Film“

Interview Die Aktivistin und Schauspielerin Anna Alboth sagt im Gespräch, dass „das Drama da draußen ist noch größer [ist]“: Sie leistet als Mitglied einer NGO an der Grenze humanitäre Hilfe – und ist selbst Zeugin zahlreicher dramatischer Momente geworden
Kampf um das blanke Überleben: Zusammen mit Tausenden anderen steckt die Familie zwischen Polen und Belarus fest
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Foto: Agata Kubis

Sie sind seit vielen Jahren in der „Grupa Granica“ tätig. Worin besteht die Arbeit der „Grupa Granica“?

Als im August 2021 Geflüchtete in größerem Umfang die polnisch-belarussische Grenze zu überqueren begannen, haben wir einen Austausch von Menschenrechtsaktivist:innen verschiedener NGOs in Polen organisiert. Diese Gruppe hat die „Grupa Granica“ ins Leben gerufen: Anfangs ein Kollektiv von NGOs, später eine große Bewegung mit Tausenden von Menschen, die auf die humanitäre Krise an der Grenze reagieren wollten. „Grupa Granica“ leistet humanitäre Hilfe – Wasser, Lebensmittel, Kleidung, Mobiltelefone – und bietet den Menschen, die auf der Flucht sind und sowohl von den belarussischen als auch von den polnischen Behörden zurückgedrängt werden, rechtliche Unterstützung. In den vergangenen zwei konnten wir mehr als 10 000 Menschen direkt helfen und waren mit fast 20 000 Menschen in Kontakt.

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Agnieszka Holland?

Agnieszka wusste sehr bald, dass sie einen Film über die Grenze machen wollte. Einige der Aktivist:innen waren der Meinung, dass das zu früh sei, da die Krise weiter andauerte. Andere hatten die Befürchung, dass es unmöglich sei, die Realität unserer Arbeit zu zeigen. Ich war mir von Anfang an sicher, dass ihr Film ein sehr wichtiges Mittel in der Auseinandersetzung sein könnte. Es ist viel stärker, etwas auf der großen Leinwand zu sehen, als nur darüber zu hören oder zu lesen.

Wie verliefen die Recherche und der Austausch mit Agnieszka Holland und ihren Co-Autor:innen?

Agnieszka und ihr Team haben eine unglaubliche Arbeit in die Recherche gesteckt. Sie haben mit Hunderten von Menschen gesprochen, mit Aktivist:innen, Geflüchteten, Grenzschützer:innen und Fachleuten. Das Drehbuch des Films wurde immer wieder überarbeitet, jede der Szenen im Film steht stellvertretend für eine Situation in der Realität. Einige der Personen im Film spielen sich sogar selbst.

Halten Sie die Darstellung in „Green Border“ realistisch?

Es hat mich sehr bewegt, als ich den Film zum ersten Mal auf der großen Leinwand gesehen habe. Einige der Szenen im Film hatte ich selbst erlebt, so dass alle Erinnerungen wieder hochkamen. Aber die Realität an der Grenze ist härter als im Film, das Drama da draußen ist noch größer. Wir haben Hunderte von dramatischen Momenten erlebt, Konflikte mit den Behörden, Momente des Dilemmas. Aber ich bin mir bewusst, dass Agnieszka diese drastischen Situationen nicht alle in den Film nehmen konnte, denn niemand würde ihr glauben, niemand würde ihn sich ansehen, die Leute würden sich nur schrecklich fühlen.

Wie gehen die Geflüchteten mit diesen traumatischen Erlebnissen um? Gibt es in Polen oder Deutschland dafür Hilfsangebote?

Dieser Aspekt treibt mich seit vielen Jahren um, wenn ich an den europäischen Grenzen arbeite. Männer, Frauen, Kinder, ältere Menschen, Teenager: All diese Menschen müssen nicht nur unglaubliche körperliche Anstrengungen leisten, wenn sie Wälder, Wasser und Zäune überqueren, sondern sie machen auch zutiefst traumatische Erfahrungen, wenn sie von Europa so behandelt werden. Wenn sie in Polen kaum mit einer fairen Behandlung nach polnischem und internationalem Recht rechnen können, wenn sie von niemand anderem als den Aktivist:innen Wasser oder Essen bekommen, weil an der polnisch-belarussischen Grenze keine großen internationalen humanitären Organisationen präsent sind. Wie könnten wir da von psychologischer Unterstützung auch nur träumen? Ich weiß, dass es in Deutschland verschiedene Zentren und NGOs gibt, aber das ist nie ausreichend. Im Grunde genommen hat jeder Mensch, der sein Land verlassen musste und die Grenzen auf irreguläre Weise überquert hat, weil es für ihn keinen anderen Weg gibt, ein Trauma erlebt und bräuchte entsprechende Unterstützung.

Eine der Hauptfiguren im Film ist Jan, der junge polnische Grenzbeamte. Wie groß ist der Druck auf die Grenzschützer dort? Gibt es Organisationen, die sich um die kümmern, die den Dienst verlassen?

Die Einsatzkräfte von Grenzschutz, Militär und Polizei an der Grenze führen die Befehle des Innenministeriums aus. Aber die Art und Weise, wie sie das tun, ist ihre Entscheidung. Sie hätten immer die Möglichkeit, einen Befehl zu verweigern, wenn er gegen das Gesetz verstößt. Einige von ihnen haben den Dienst gekündigt. Andere sind aus gesundheitlichen Gründen beurlaubt. Wir wissen, dass viele Probleme mit Alkohol haben. Ich habe einige von ihnen erlebt, die während der Arbeit komplett betrunken waren, wahrscheinlich weil sie dem Druck nicht standhalten konnten. Keinem Menschen würde es gut gehen, wenn er eine schwangere Frau über den Stacheldraht wirft. Mit der „Grupa Granica“ versuchen wir, sie über ihre Rechte und über die möglichen Folgen ihres Verhaltens in der Zukunft aufzuklären. Ich weiß von keiner Organisation, die mit Aussteigern arbeitet, aber das wäre dringend notwendig. Psychologische Unterstützung für die Menschen, die an der Grenze Dienst tun, für die Einheimischen, die in den Grenzgebieten leben, für die Aktivist:innen, die das miterlebt haben.

Der Film spielt Ende 2021. Wie hat sich die Situation seither entwickelt?

Nichts dort hat sich zum Besseren gewendet. Polen hat einen Zaun gebaut, der rund 400 Millionen Dollar gekostet hat. Das hält natürlich niemanden davon ab, über die Grenze zu gehen, kein Zaun und keine Mauer der Welt kann das verhindern. Die Zahl der Menschen, die heute die Grenze überqueren, ist ähnlich wie damals, aber ihr Gesundheitszustand ist schlechter: Nach einem Sturz vom 5 Meter hohen Zaun ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie sich die Knochen brechen, dass sie länger extremen Temperaturen ausgesetzt sind und noch kränker werden. Was schlimmer geworden ist, ist die Gewalt auf der polnischen Seite der Grenze: Wir kennen die Zeug:innenenaussagen über Misshandlungen – Tritte, Schläge, Schusswaffeneinsatz, Pfefferspray, Ausziehen bei Leibesvisitationen – , aber wir sehen auch die Beweise dafür, die Verletzungen. Etwa 15 Meter vom Hauptzaun entfernt gibt es einen zusätzlichen Ziehharmonika-Stacheldraht, der kaum sichtbar ist und schwere Verletzungen verursacht. Die Militarisierung der gesamten Grenzregion ist eine Tatsache: Die Armee bedroht nicht nur die Aktivist:innen, sondern auch die polnischen Bürger:innen vor Ort.

Welche Hilfsorganisationen gibt es vor Ort? Wie geht die dort lebende polnische Bevölkerung mit der Situation um?

Neben der „Grupa Granica „gibt es nur einige andere Gruppen, die entlang der gesamten Grenze tätig sind. Zu ihnen gehören auch lokale Einheimische. Es gibt viele, die sich in den letzten zwei Jahren unseren Aktivitäten angeschlossen haben. Aber natürlich gibt es auch die, die die Reifen unserer Autos aufschlitzen, die Scheiben zerstören und die Polizei rufen. Wie in jeder Gesellschaft gibt es diejenigen, die Leben retten, und diejenigen, die sich um ihr eigenes Wohlergehen kümmern.

Welche Verbindung gibt es zwischen den Ereignissen an der polnisch-belarussischen Grenze und der Situation in Deutschland?

Was an der polnisch-belarussischen Grenze passiert, sollte auch für die Deutschen ein wichtiges Thema sein: Nicht nur, weil es sich um Menschenrechtsverletzungen in der gemeinsamen Europäischen Union handelt, sondern auch, weil die meisten Menschen, die über die Grenze nach Polen kommen, in Deutschland landen. Sie stellen in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz, vielen wird er gewährt. Einige der Menschen, die ich im Herbst 2021 in den polnischen Wäldern getroffen habe, leben und arbeiten jetzt legal in Deutschland. In der EU gilt, dass Menschen auf der Flucht im ersten EU-Land, das sie betreten, Schutz beantragen sollen. Eine Zeit lang betrachtete Deutschland Polen nicht als sicheres Land, um Menschen zurückzuschieben, aber jetzt finden wieder Abschiebungen dahin statt, wenn auch nicht im großen Ausmaß. Aber Polen ist immer noch kein sicheres Land, und wer zurück nach Polen geschickt wird, kann wieder in Belarus landen. Bislang sind 55 Tote in den polnischen Wäldern bestätigt, rund 300 Menschen werden vermisst.

– Interview November 2023

22.01.2024, 18:42

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