„Das Leben ist wahnsinnig lustig und komisch“

Regiekommentar Viel mehr als nur die bittersüße Geschichte eines grummeligen Alten: Mit „Grump“ erzählt der preisgekrönte finnische Regisseur Mika Kaurismäki eine Geschichte über das Leben und den Tod und die Beziehungen, die uns in beidem begleiten
Filmstill aus „Grump“
Filmstill aus „Grump“

Foto: Christine Schroeder

Der Film handelt von zwei Brüdern, die sich seit vierzig Jahren nicht mehr gesehen haben. Tarmo löste sich einfach in Luft auf und verschwand von der Familienfarm, um die sich schließlich sein Bruder, Grump, kümmern musste. Grump glaubt, sein Bruder sei für den Niedergang der Farm verantwortlich und deshalb versucht er seit Jahrzehnten, die Existenz seines Bruders zu leugnen. Tarmo hatte jedoch seine Gründe zu verschwinden, von denen sein kleiner Bruder bis heute nichts weiß. Erst nachdem sich die Knoten von vor 40 Jahren lösen, beginnen die Brüder, sich und die Entscheidungen, die sie getroffen haben, zu verstehen.

Zu Beginn des Films sind die Welten von Grump und seinem Bruder meilenweit voneinander entfernt. Sie haben praktisch nichts gemeinsam. Grumps moralische Werte sind in Stein gemeißelt; in seiner Welt war immer alles am richtigen Platz und in guter Ordnung. Er glaubt genau zu wissen, was richtig und was falsch ist. Er hat sein ganzes Leben an einem Ort verbracht, während Tarmos Welt immer in Bewegung gewesen ist, seit er sein Zuhause verlassen und in die Welt hinausgezogen ist. Nichts in Tarmos Leben war von Dauer und er hat auch die weniger schöne Seite des Lebens gesehen. Für den einen ist sein Zuhause das Haus, in dem er sein ganzes Leben gelebt hat; der andere ist ein Nomade, der noch nie ein Haus oder eine Wohnung besessen hat; sein Zuhause ist dort, wo immer er sein Wohnmobil parkt.
Dieses Setting bietet mir als Regisseur eine hervorragende Möglichkeit, die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln zu beobachten, die Grundwerte des Lebens zu untersuchen und sie zu hinterfragen. Die Brüder müssen sich selbst hinterfragen und ihre Einstellungen und Vorurteile anpassen, um weiterzukommen. Und das Beste ist, dass dieses Zusammentreffen dieser völlig unterschiedlichen Welten und Menschen eine wunderbare natürliche Quelle der Komödie ist. Ein weiteres sehr wichtiges Thema im Film hat mit der Familie als Institution in einer sich verändernden Welt zu tun. Für den einen bedeutet Familie das Eine, während sie für andere etwas völlig anderes bedeutet.

Für Grump hat Familie immer eine Kernfamilie aus einem Vater, einer Mutter und zwei Kindern bedeutet. Grump meint auch, er sei ein guter Vater gewesen, denn ein Vater sollte autoritär sein. Für Tarmo war die Familie immer eine seltsame Konstellation. Er hatte es versucht, heiratete, hatte eine Tochter und ließ sich nieder. Er konnte jedoch nicht die Rolle des Vaters spielen; er konnte dem Ruf der Straße und der Freiheit nicht widerstehen. Er verließ seine Familie, was seiner Tochter Maria traumatische Kindheitserinnerungen hinterließ. Deshalb hat Maria beschlossen, eine Individualistin und eine unabhängige Frau zu sein und eine eigene Familie zu gründen. Sie wollte aber keinen Vater für ihr Kind, weil er sein Kind ja eines Tages so verlassen könnte, wie ihr Vater sie verlassen hat.

Grumps Söhne haben hingegen eine Midlife-Crisis. Ihre Familien fallen auseinander und denken, dass ihre Kindheit und ihr autoritärer Vater daran schuld sind.

Es gibt im Film auch die zwei Pole des Lebens, Leben und Tod, die im Film präsent sind. Tarmo ist krank. Er weiß, dass er sterben wird, aber er hat keine Angst davor und möchte das Leben nicht künstlich verlängern, obwohl er vielleicht die Chance dazu hätte. Grumps Sohn Hessu hat dagegen davor Angst, dass er ein weiteres Kind bekommen wird. Er fühlt, dass er als Vater und Familienoberhaupt gescheitert ist und weiß nicht, wie er die weiteren Herausforderungen seiner Familie bewältigen soll.

Der Film beschäftigt sich mit Perspektiven im Leben; jede Hauptfigur – sogar Grump – muss Haltungen und Entscheidungen abwägen und bewerten. Schrittweise möchten alle ihre Beziehungen miteinander verbessern, sie wieder aufleben lassen und so lange verlorene Verbindungen wiederfinden.

Für die Schauspieler bieten die Settings des Films und die Komplexität der Figuren eine großartige Gelegenheit, authentische Rollen mit der ganzen Bandbreite der Emotionen zu spielen. Der Film ist ein Roadmovie, in dem sich die Landschaften verändern und eine sich bewegende Kamera die Figuren in Bewegung bringt. Grump hat fast sein ganzes Leben in einer stagnierenden Atmosphäre verbracht, aber in diesem Film wird er und seine Perspektive aufs Leben auf eine wilde Fahrt mitgenommen.Der Film spielt in Finnland und Deutschland, was der visuellen Erzählung interessante Elemente hinzufügt. Ich habe viele Jahre in Deutschland gelebt und Filme gemacht, daher fühle ich mich dort zu Hause und glaube, dass ich bestimmte Merkmale Deutschlands sowohl in Bezug auf die Visualität als auch auf die Atmosphäre portraitieren kann.

Trotz der Krisen und vielfältigen persönlichen Probleme ist das Genre des Films „Komödie“, aber mit Elementen des Dramas und der Tragödie. Der Film muss nicht mit Gewalt versuchen, lustig zu sein. Die Komödie wird in den Situationen geboren. Ich mag diese Kombination und ich habe eine Reihe von Filmen gemacht, in denen das Leben tragisch aussehen mag, wenn man es aus der Nähe betrachtet, aber wenn man es aus der Ferne betrachtet, erkennt man die Komödie des Lebens und muss schmunzeln.Der Grat zwischen Tragödie und Komödie ist oft schmal und der Film wandert auf diesem schmalen Grat, so wie wir unser wirkliches Leben führen. Manchmal ist das Leben eben tragisch, aber oft ist es wahnsinnig lustig und komisch.

– Mika Kaurismäki, Regisseur von Grump

23.11.2022, 23:01

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