„Ein absolut emanzipatorisches Moment“

Interview Antonia Kilian spricht im Interview über die Dreharbeiten zu ihrem Dokumentarfilm „The Other Side of The River“. Ein Dreh, der nicht nur in Bezug auf den Drehort – Syrien während des Kriegs – außergewöhnlich gewesen ist...
Die Regisseurin von „The Other Side Of The River“, Antonia Kilian.
Die Regisseurin von „The Other Side Of The River“, Antonia Kilian.

Foto: Antonia Kilian

Warum sind Sie nach Syrien gereist und woher kam die Idee, The Other Side Of The River zu machen?

Ich war 2016 in Syrien und es war von Anfang an klar, dass ich einen Film über die kurdische Frauenbewegung in Rojava machen wollte. Ich hatte mich schon etwa zwei Jahre vor diesem Projekt damit beschäftigt, mehr über die kurdische Politik verstehen zu wollen und war Teil einer Solidaritätsbewegung hier in Deutschland. Ich wusste, dass es in Nordsyrien ein Gebiet gibt, das sich innerhalb der kurdischen Verwaltung selbst organisiert, ein Ort, an dem sich eine sehr starke, autonome Frauenbewegung etabliert hat. Mein Ziel oder besser gesagt, meine Hoffnung war es dort eine Protagonistin zu finden, die diese Art von Training und Ausbildung innerhalb dieser „Women’s Protection Units“ (YPJ) sucht. Ich wollte sehen, wie sie aus der Akademie hervorgehen würde, wie diese ideologischen Lektionen und diese Art der militärischen Ausbildung in die Realität umgesetzt werden würden - für sie persönlich, innerhalb ihrerFamilienstrukturen und insgesamt innerhalb der Frauenemanzipationsbewegung. Es war direkt an meinem ersten Abend dort, dass ich Hala traf. Sie war so eigenwillig, so entschlossen und voller positiver Energie. Sie war gerade von ihren Eltern in Minbij geflohen und in der Militärakademie auf der anderen Seite des Flusses angekommen. Sie sagte zu mir: „Wenn du jetzt länger hierbleibst, erzähle ich dir meine ganze Geschichte.“

Wie wurden Sie dort innerhalb der Frauenbewegung und in der Gesellschaft aufgenommen? Auf welche Art von Unterstützung sind Sie bei den Dreharbeiten gestoßen?

In einem solchen Kriegsgebiet kann man sich nicht frei bewegen und ich musste mir das Vertrauen auf vielen Ebenen verdienen - sowohl von Hala und ihrer Familie als auch von den Frauen in der Bewegung. Meine politischen Ansichten und meine Motivation wurden genau unter die Lupe genommen. Es war ein prekäres Gleichgewicht von Faktoren. Auf der einen Seite war es für Hala und die Frauenbewegung wichtig, dass ich ihre Kämpfe, ihre Revolution im Film darstellen wollte und dass dies natürlich auch kritisch gesehen werden kann. Ich glaube, dass meine anfängliche, vielleicht naive, enthusiastische Annäherung an Hala und die Frauenbewegung es mir ermöglichte, dieses Vertrauen und einen Zugang zu bestimmten Situationen zu gewinnen, die mir selbst nicht bewusst waren. Je mehr ich beobachtete, desto mehr kamen die problematischen und sogar manchmal repressiven Aspekte innerhalb der Bewegung und andere Widersprüche ans Licht. Doch ohne die Unterstützung der dortigen Frauenbewegung wäre es mir nicht möglich gewesen, in die Region zu ziehen und dort zu leben, diese Art von Nähe zu haben und dieses Projekt so zu realisieren, wie ich es tat. Nachdem ich diese Hürde überwunden hatte, gab es viele Menschen, die mir geholfen haben.Die kurdisch-syrische Filmemacherin Sevinaz Evdike machte mich mit ihrer Künstlerfamilie bekannt, bei der ich de facto ein Jahr lang lebte und die mich bei meinem Filmprojekt unterstützte. Sevinaz ist selbst Co-Direktorin der Filmkommune namens „Komina Film a Rojava“. Das ist ein selbstorganisiertes Filmkollektiv, das Filme produziert, Filmemachen lehrt und ein Festival veranstaltet.Sie unterstützten auch mein Projekt, dennoch habe ich den größten Teil des Films allein gedreht, ohne Übersetzer:in an meiner Seite. Tatsächlich war ich die meiste Zeit allein dort, beobachtete und ließ dann, wenn möglich, alle paar Tage das gedrehte Material übersetzen. Nach einiger Zeit lernte ich auch den iranischen Filmemacher und Schriftsteller Arash Asadi kennen, der damals als Journalist in der Region aktiv war. Arash und ich setzten uns intensiv mit den Themen des Films auseinander. Er wurde Co-Autor und hat den Film auch geschnitten. Wir haben weiterhin gemeinsam an verschiedenen Filmprojekten in Deutschland gearbeitet. In Berlin lernte ich die kurdisch-syrischen Filmemacherin Guevara Namer kennen, der mit mir für eine zweite Reise nach Syrien reiste, um mit Hala weiter zu drehen. Guevara wurde auch Co-Autorin und Produzentin. In vielerlei Hinsicht war dieser Film eine kollektive Anstrengung, und das Maß an Intimität, das Vertrauen und das tiefe Verständnis, das ich mit Hala, ihrer Familie und der Frauenbewegung dort gewonnen habe, wäre ohne diese Zusammenarbeit nicht möglich gewesen.

Hatten Sie eine feministische Motivation für den Film?

Auf jeden Fall. Ich bin hingefahren, weil ich mehr über die kurdische Frauenbewegung aus erster Hand erfahren wollte. Und zwar nicht nur aus politischem, theoretischem oder journalistischem Interesse, sondern auch aus einem tiefen persönlichen Interesse heraus. Ich bin selbst Feministin, in Deutschland geboren und aufgewachsen, hier in dieser privilegierten Umgebung – da war es für mich wichtig meine eigene Position anzuerkennen und zu reflektieren, genau wie meinen eigenen Feminismus und was Aktivismus in diesem Kontext bedeutet. Wie können sich Frauen autonom organisieren, um ermächtigt zu werden und irgendwie eine Alternative zur patriarchalischen Gesellschaft aufzubauen? In der Theorie war ich davon überzeugt, dass dies in Rojava auf sehr beeindruckende Weise geschieht. Ich finde die kämpferische Entschlossenheit, die hinter der dortigen Frauenbewegung steht, auf ihre Art und Weise immer noch bemerkenswert. Aber nicht nur in einem militärischen Sinne, sondern auch in der sehr konsequenten, selbstverständlichen Art und Weise, wie sie durchgesetzt wird. In diesem Sinne war es für mich ein absolut emanzipatorisches Moment, als Frau dorthin zu gehen, zunächst allein in ein Gebiet zu reisen, das als sehr gefährlich gilt, und dort auf die Strukturen der Frauenbewegung zu stoßen, die es mir letztlich erst ermöglicht haben, dort zu leben, zu arbeiten und einen Film zu machen.

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Antonia Kilian ist Regisseurin, Kamerafrau und Produzentin. Sie studierte Visuelle Kommunikation sowie Kunst und Medien an der Universität der Künste Berlin. Sie studierte Kinematographie an der Universität Potsdam Babelsberg und an der ISA in Havanna, Kuba. Sie war DoP bei zahlreichen Filmen, sowohl Kurz- als auch Langfilmen, Spiel- und Dokumentarfilmen, die auf Festivals weltweit gezeigt wurden. Sie hat Videoinstallationen geschaffen und bei mehreren dokumentarischen Kurzfilmen Regie geführt. Sie lebte über ein Jahr in Nordost-Syrien, wo sie während dieser Zeit das Material für ihr Regiedebüt in Spielfilmlänge – „The Other Side Of The River“ – drehte. Derzeit lebt und arbeitet sie zwischen Kassel und Berlin und leitet ihre eigene Produktionsfirma Pink Shadow Films.

26.01.2022, 17:31

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