Spirituell und sinnlich

Interview Mit seinem wunderbaren Ensemble, großartig gefilmt und in meisterhaft choreografierten Einstellungen erzählt, ist „Tótem“ ein vielstimmiger, choraler Film. Ein Interview mit Lila Avilés über das Leben, die Liebe und den Tod
Spirituell und sinnlich

Foto: Limerencia Films

Was stand am Anfang von „Tótem“?

Für mich ist es äußerst wichtig, den Titel für einen Film zu finden. Titel sind wie unsere Geburtsnamen, sie sind eine Art Schlüssel. Manchmal beginne ich mit einem bestimmten Namen und dann beginnt er zu mutieren, aber wenn ich mir ganz sicher bin, dass ich den Titel nicht ändern werde, ist das eine sehr tiefe Erfahrung. Die Idee zum Film kam mir, als ich gerade Mutter geworden war, also ist er wohl eine Art Geschenk für meine Tochter. Ich habe ihre Begeisterung, ihr wildes Herz und ihre Geduld mit mir als Mutter immer sehr geschätzt. In gewisser Weise ist der Film eine Hommage an die Liebe, an diese Art von Beziehung.

Wie haben sich die Vielstimmigkeit und die verschiedenen Ebenen des Films entwickelt? Was war für Sie wichtig?

Nun, in „Tótem“ geht es um viele Dinge. Ich mag Filme, die mehrdeutig sind, die sich für verschiedene Interpretationen öffnen. Ich wollte einen Film über Kommunikation machen, über den Wert menschlicher Beziehungen und ihrer Verbindung mit der Natur. Ich wollte eine Hauptfigur schaffen, die mit ihren sieben Jahren schon eine große Reife hat, ein Mädchen, das mit seiner Fähigkeit umgehen kann, aufmerksam zu sein, und das versucht, eine Welt mit ihrem eigenen Blick zu erschaffen. Aber hauptsächlich, denke ich, spricht „Tótem“ ganz einfach vom Leben. Wir neigen heute dazu, so in dem gefangen zu sein, was außerhalb von uns ist, dass wir oft vergessen, auf das Innere zu achten. Wir als Gesellschaft sind nicht verbunden, wir verstehen nicht, dass es bei allem unablässig um Zusammenarbeit geht, um totalen Respekt, für Tiere, für die Natur, für die Familie, die Freunde, für uns selbst. Begriffe wie Weisheit, Anstrengung, Freundlichkeit, Gemeinschaft, Familie, Gruppen stehen zunehmend unvermittelt da. Sprachen verschwinden so schnell wie Tierarten. Ich glaube, dieser Film ist eine Reaktion auf meine Frage nach dem Sinn „des Hauses“ oder „des Zuhauses“. Was können wir tun, um verbunden zu bleiben? Je näher wir hinschauen, je näher wir an den Wurzeln sind, desto einfacher wird das. In einer einzigen Familie finden wir zuverlässig eine Vielfalt an Verhaltensweisen und Blickwinkeln, ein Mikrouniversum – wie William Blake sagt: Eine Welt in einem Sandkorn und einen Himmel in einer wilden Blume sehen, die Unendlichkeit in einer Hand halten und die Ewigkeit in einer Stunde. Von diesem Ausgangspunkt aus habe ich einfach angefangen zu schreiben, die Figuren zu formen und miteinander zu verschmelzen, bis daraus „Tótem“ geworden ist.

Warum haben Sie die Geschichte von „Tótem“ in einer Großfamilie angesiedelt?

Hauptsächlich, weil Familien in Lateinamerika oft so riesig sind. Es gibt immer Cousins, Onkels und Tanten, Tiere, einfach wie eine Party. Aber auch, weil ich dieses Universum porträtieren wollte. Ich mag Sprachen und Sprechweisen. Wie in einer Familie miteinander gesprochen und umgegangen wird, Slang und Codes, immer bedeutet es für sie etwas Eigenes, auch wenn es in derselben Sprache geschieht. Die Rituale, die Familien in ihrem Alltag erleben. Das Bedürfnis zu verstehen, dass jeder anders ist, und bewusst damit umzugehen, denn das kann auch leicht zum Rückzug ins Schneckenhaus führen...

Wie haben Sie mit den jungen Darstellerinnen gearbeitet?

Schon beim Schreiben wusste ich, dass ich ein besonderes Ensemble von Schauspielern finden musste, damit der Film so werden würde, wie ich es mir erträumte. Das war das Ziel. Ich lud Gabriela Cartol ein, die Hauptdarstellerin von „Das Zimmermädchen“, mit mir das Casting zu machen, und gemeinsam suchten wir nach diesem Bienenschwarm und unserer Bienenkönigin Sol. Das Casting war sehr aufreibend, aber die Energie musste einfach hier drin stecken. Ich mag es sehr, mit nicht-professionellen Darstellern zu arbeiten, deshalb ist das Casting immer eine große Anstrengung. Manchmal gibt es diese Intuition, wenn man Menschen trifft, diese Intuition, die einem im Herzen sagt: „Hurra, sie ist es!“, und das ist ein sehr starkes Gefühl. Als ich Naíma begegnete, liebte ich das Gefühl, das ich in ihrer Nähe hatte. Wir konnten stundenlang über alles Mögliche reden und uns dabei perfekt wohl miteinander fühlen; und mit Saori war es so, dass ich die ganze Zeit lachte. Was für Volltreffer!

Was war in der Inszenierung wesentlich für Sie?

Für mich ist die Vorproduktion immer anstrengend, aber wenn es schließlich losgeht, wird alles lebendig. Zusammen mit unserem Kameramann Diego Tenorio haben wir versucht, einen spielerischen Ansatz für die Bildgestaltung zu finden, mit langen Einstellungen, was eine Menge Arbeit und Vorbereitung vor dem Drehen erfordert, aber dann alles organisch fließen lässt. Ich wollte für die Mädchen dieses Gefühl der Freude, ein Gefühl der Verspieltheit. Es war umso toller zu sehen, wie ihr freier Geist das gesamte Team angesteckt hat. Es ist immer gut, sich an das Kind zu erinnern, das wir einmal waren, und ihm wie in einem Spiegel wieder zu begegnen. Als Regisseurin wird man fast wie eine Mutter, man muss zuhören, fühlen und gesunden Menschenverstand entwickeln, etwas Starkes aufbauen, sie anleiten, ohne zu drängen, sein ganzes Vertrauen und Wissen einbringen. Ich wollte, dass sich Cast und Crew geliebt und frei fühlen, ich wollte ihnen alles an die Hand geben, was sie brauchten, um sich zuhause zu fühlen.

In seiner Vielstimmigkeit wechselt der Film immer wieder auch die Tonalität, vom Ernsten ins Tragikomische, manchmal auch ins Absurde.

Ich denke, es gibt viele verschiedene Ebenen. „Tótem“ erzählt von einer Menge verschiedener Dinge, wenigstens hoffe ich das. Für mich ist es immer berührend, wenn die Leute etwas mitnehmen, das mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hat, Verbindungen mit ihrer eigenen Familie, zum Beispiel, oder Freunden. Das ist das Vermögen der Kunst, Barrieren zu überwinden, die wir alle errichten, und andere an unserem Innenleben, unserem „inneren Zuhause“ teilhaben zu lassen. Der Film hat natürlich Schattierungen, genau wie ein Gemälde. Um Licht zu verstehen, müssen wir Schatten verstehen. Es fällt den Menschen oft schwer, über Sterben zu sprechen, über Verlust. In „Tótem“ akzeptieren ihn alle. Sie tun nicht so, als ob alles gut wäre, sie sehen Tonas Leiden. Sie sind sehr ehrlich. Manchmal sind es die Schatten, die das Leben extrem schwierig machen, aber auch am widerständigsten. Sie machen das Leben zu einer Reise, sie lassen es pulsieren, wie ein Geheimnis, das gelebt werden muss.

30.10.2023, 13:54

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