„Die Vielfalt fasziniert mich“

Kommentar Filmregisseurin Lila Avilés sagt über ihren neuesten Film, er sein „eine Geschichte über Familie und Freunde“, der die Kommunikation zwischen ihnen in den Mittelpunkt stellt. Eine Geschichte, bei der es – wie bei allem – um die Liebe geht
„Die Vielfalt fasziniert mich“

Foto: Limerencia Films

Ich wollte mit ,Tótem‘ weiter daran arbeiten, das alltägliche Leben aus aus einer sehr intimen Perspektive zu zeigen, in das Innere der Dinge zu schauen. Ich mag Mikrokosmen, die Essenz der Dinge, Matrjoschkas, Pyramiden, Dinge, die andere Dinge enthalten. Da es im Film zentral um die Vorstellung des Zuhauses geht, war die Beschränkung auf einen Ort die direkte und logische Antwort auf die schlichte Vorgabe des Films. Es ist nicht so, dass ich eine „Nur-eine-Location-Regisseurin“ sein möchte, es hat sich einfach so ergeben.

,Tótem‘ ist eine Geschichte über Familie und Freunde. Deshalb war mir auch klar, dass ich die Figuren und die Art ihrer Kommunikation in den Mittelpunkt stellen musste. Ich liebe die Umgangssprache. Selbst wenn es sich nur um Geplapper handelt, liegt darin bereits ein eigener Gehalt an sprachlicher Transformation, das Bewusstsein, dass Worte wichtig sind, Worte, die zu Mikrouniversen innerhalb der Sprache selbst werden. In den meisten Familien gibt es eine Art von Kommunikation, die fast wie eine eigene Sprache ist. Man spricht mit seinem Vater nicht auf dieselbe Weise wie mit seiner Mutter oder wie mit seinem Hund. Diese Vielfalt fasziniert mich, auch wenn sie sehr schwer zu übertragen ist. Mich interessiert die Energie der Worte, die man nie verliert.

Jedes Mal, wenn eine Tierart oder eine Sprache verloren geht, verlieren wir ein Teil des größeren Puzzles, wir geben eine Denkweise auf. Das Genom einer Spezies ist eine Art Handbuch. Wenn die Spezies ausstirbt, geht das Handbuch verloren, egal ob es sich um eine Ameise oder ein Nashorn handelt. Wir vergessen, dass wir Tiere sind. Heute kommt das Aussterben so häufig vor, dass wir uns offenbar daran gewöhnt haben. Leben und Tod sind eine Dualität, ebenso wie Weisheit und Ignoranz, Innen und Außen, Tag und Nacht, Sonne und Mond, Licht und Dunkelheit, Yin und Yang.

Zeit und Dauer sind eine weitere Dualität, die mich interessiert. Die gemessene Zeit und unsere Wahrnehmung ihres Vergehens sind sehr verschieden, sogar wenn beide die gleiche Abfolge von Ereignissen beschreiben. Wir alle erleben Tage, die uns wie Monate vorkommen, und Tage, die in Sekunden vergehen. Dabei wird unsere Zeiterfahrung oft von den Räumen und Orten geprägt, die uns umgeben. Ich denke oft, dass das Konzept des Raum-Zeit-Kontinuums, das die Relativitätstheorie postuliert, einen intuitiven, konkreten Sinn hat. Da sie unser Zeitempfinden beeinflussen, liegen die Orte, die wir bewohnen, nicht nur außerhalb von uns. Wir müssen diese Orte auch in uns selbst finden, mit all unseren Unvollkommenheiten und unabhängig von Geschlecht, Religion, Land, Status, Veranlagung... Diesen wirklichen Wohnsitz von uns zu finden, ist ein Prozess der Subtraktion, der Reduzierung und Konzentration auf das Wesentliche. Wie Tolstoi gesagt hat: „Die Wahrheit gewinnt man, wie das Gold, nicht durch ihr Wachstum, sondern indem man alles abwäscht, was nicht Gold ist.“ Auch wenn die Wahrheit selbst schwer zu fassen erscheinen mag – wenn es um das Wesentliche geht, bin ich überzeugt, dass Cassavetes Recht hatte: „Bei allem geht es um Liebe.“

– Lila Avilés, Regisseurin von „Tótem“

30.10.2023, 13:54

Film: Weitere Artikel


Tótem: Berauschender Film

Tótem: Berauschender Film

Zum Film So zart, berauschend und kraftvoll: „Tótem“ ist der neue Film der mexikanischen Drehbuchautorin und Filmregisseurin Lila Avilés. Ein Film, der in 90 Minuten, das Leben in seinem ganzen Facettenreichtum einfängt
Spirituell und sinnlich

Spirituell und sinnlich

Interview Mit seinem wunderbaren Ensemble, großartig gefilmt und in meisterhaft choreografierten Einstellungen erzählt, ist „Tótem“ ein vielstimmiger, choraler Film. Ein Interview mit Lila Avilés über das Leben, die Liebe und den Tod
Großartige Kinobilder

Großartige Kinobilder

Netzschau „Wie der Betrachter auf den verschiedenen Elementen eines großen Gemäldes aus früheren Zeiten verweilt und dann den Blick weiterziehen lässt, so erfasst der Film auf ruhige und bedächtige Weise diese Familie in ihrer ungewöhnlichen Situation...“

Tótem | Trailer

Video Mit seinem wunderbaren Ensemble, großartig gefilmt und in meisterhaft choreografierten Einstellungen erzählt, ist Tótem ein vielstimmiger, choraler Film über das Leben, die Liebe, den Schmerz und den Tod


Tótem | Trailer (engl.)

Video Seven-year-old Sol, who is spending the day at her grandfather's home, for a surprise party for Sol's father, Tonatiuh. As daylight fades, Sol comes to understand that her world is about to change dramatically


Lila Avilés | Interview

Video In the enormously poignant follow-up to her international breakthrough, The Chambermaid (a selection of ND/NF 2019), director Lila Avilés nestles in with one family over the course of a single, meaningful day. Interview with Lila Avilés


Lila Avilés | Women's Tales

Video „I’m like super enthusiastic of stories,“ says #LilaAvilés, „I guess I was a story teller in another life“. Watch the full interview with „EYE TWO TIMES MOUTH“’s director