Modernes Märchen

Interview Kinder, Hunde, Fußball: Der georgische Regisseur Alexandre Koberidze erzählt, welche signifikante Bedeutung ihnen zukommt. Außerdem erklärt er seine Idee vom magischen Realismus und seiner Umsetzung in „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“
Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? (Regie: Alexandre Koberidze)
Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? (Regie: Alexandre Koberidze)

Foto: Grandfilm

Dein Film entwirft eine Liebesgeschichte um dann die Spannung zu erzeugen, ob sie jemals in Erfüllung gehen wird. Wie bist Du auf die Motive des Fluchs und der verpassten Gelegenheiten gekommen?

Als Kind musste ich häufig ein Amulett aus Gagat tragen, meistens an meiner Hand, um mich vor dem bösen Blick zu schützen. Heutzutage macht das fast niemand mehr – aber mich interessiert, warum. Gibt es den bösen Blick nicht mehr oder glaubt einfach niemand mehr daran? Natürlich geht es in meiner Geschichte nicht nur um den bösen Blick, sondern um Kräfte – gute wie schlechte – die aus unserer materialistischen Welt ausgesperrt zu sein scheinen, sich aber ab und zu bemerkbar machen. Mich interessiert die Achtung gegenüber dem Unerklärlichen und welchen Platz solche Phänomene im Alltag haben. Die Anziehung zwischen zwei Menschen ist solch eine unerklärliche Sache. Wie ist das Band gewebt, dass zwei Menschen aneinander bindet und warum ist es so schmerzhaft, wenn das Band reißt? Niemand weiß das. Die Metamorphose im Film ist für mich nicht so sehr eine Allegorie oder Metapher, sondern etwas, das direkt vor unseren Augen passiert – alles weitere ist eine Sache der Interpretation.

Kinder, Hunde und Fußball spielen in Deinem Film eine wichtige Rolle. Kannst Du kurz erklären, warum Du Dich entschieden hast, diese Elemente in die Geschichte einzubinden?

In gewisser Weise ist Kutaisi eine Stadt, die ihren Kindern gehört, oder es fühlt sich zumindest zu mancher Tageszeit so an. Es ist ein bisschen wie die Sequenz in Nanni Morettis Liebes Tagebuch, in der die Kinder die Stadt übernommen haben. Nachdem wir uns sehr danach gerichtet haben, was die Stadt anzubieten hat, war es schnell klar, dass die Kinder eine wichtige Rolle spielen würden – und abgesehen davon, gibt es etwas Schöneres, als Kinder zu filmen? Vielleicht Hunde! In solche schwierigen Zeiten wie den unsrigen, ist die Existenz von Hunden mit ihrer Hingabe, ihrer Ehre und ihrer Würde für mich ein wahrer Trost, wann immer ich ihnen begegne. Zum Dank gewähre ich ihnen in meinen Filmen immer ein wenig Raum. Es gibt ein paar Dinge, die mir Freude bereiten, und eines davon ist ganz sicher Fußball. Als wir auf der Suche nach Drehorten waren, besuchten wir ein richtiges Stadion und gingen durch einen Tunnel auf das Spielfeld, so wie die Spieler. Und in diesem Moment erkannte ich schließlich, dass dies mein größter Traum wäre: in einem nagelneuen Trikot auf den Platz rennen, in einer Reihe mit dem Rest des Teams stehen, strahlend vor Stolz, dem Song der Champion's League oder der Nationalhymne zuhörend, während ich mich auf das große Spiel vorbereite. Das wird nicht passieren, ich weiß, aber in den Filmen, die ich mache, kann ich diesem Traum etwas näher kommen ...

Der Titel des Films, aber auch seine Entrücktheit evozieren eine gewisse Art von magischem Realismus, von der Existenz des Übernatürlichen im Alltäglichen, ohne, dass jemand überrascht wäre. Würdest Du das als eine typisch georgische Herangehensweise sehen? Warum hast Du Dich stilistisch dafür entschieden?

Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder die Figuren im Film wundern sich tatsächlich, was vor sich geht, aber wir sehen sie nie dabei, oder sie wundern sich und lassen es sich nicht anmerken. Zum einen ist es für mich wichtig, dass Personen in entscheidenden, intimen Momenten alleine bleiben. Es gibt Dinge, die man alleine tun und erfahren muss, und das gilt auch für fiktive Figuren. Zum anderen ist die Bandbreite menschlicher emotionaler Reaktionen komplett überbewertet und die Reaktionen, die wir im Film sehen, haben nichts mit der Realität zu tun. Ich denke nicht unbedingt, dass Reaktionen realistisch sein müssen, aber ich würde es vorziehen, wenn sie nicht den üblichen Mustern folgen würden, die wir aus Filmen gewohnt sind.

Erzähl uns etwas zur Musik – sie fügt dem Film einen charmanten und amüsanten Ton hinzu. Was hat diese Musikauswahl beeinflußt? Und warum diese große Bandbreite von der Synthesizer-Titelmelodie über traditionellen georgischen Gesang bis zu Gianna Nannini?

Ich hege eine gewisse Nostalgie für die Zeit des Stummfilms. Dieses Genre wurde komplett vom Tonfilm geschluckt, als würde das eine das andere stören oder als wäre es unmöglich, dass beides parallel existiert. Ich versuche häufig, eine Art Stummfilm zu machen, nicht im wortwörtlichen Sinne, aber in der Essenz. Stummfilme wurden immer von Musik begleitet und ich versuche, dem Gerne treu zu bleiben. Die Filmmusik wurde von meinem Bruder Giorgie Koberidze geschrieben. Er brachte diese Vielfalt mit ein. Es war eine lange Kollaboration und wir wurden von zahlreichen Quellen inspiriert, von Tom und Jerry, wo die Musik direkt aus den Bewegungen der Figuren entsteht, bis zu großen Soundtracks, wo die Musik gewaltig ist, wie eine Oper. Giorgi komponierte viele sehr unterschiedliche Stücke die häufig mit den Erwartungen brechen. Das ist wichtig, denn man braucht immer einen Kontrapunkt. Nanninis „Notti magiche“ war der offizielle Song der Fußballweltmeisterschaft 1990 in Italien. Ich war damals erst sechs, aber der Song ist mir als eine Hymne über Leidenschaft in Erinnerung geblieben.

Das Filmemachen spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte von Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? Es wird als ein langer, schmerzhafter Prozess dargestellt, manchmal misslingt der Film, aber wenn es klappt, zeigt es den Menschen eine Wahrheit, die sie vorher nicht gesehen haben. Wie betrachtest Du die Beziehung zwischen Film und Realität und wie siehst Du seine Rolle im Leben des Publikums?

Vor ein paar Jahren war ich zum Jahreswechsel in Finnland. Ich hatte das seltsame Gefühl von Unsicherheit, ob die Dinge nun so waren, wie ich sie sah und Aki Kaurismäki sie in seinen Filmen einfach so zeigt, wie sie sind, oder ob die Dinge so waren, weil sie Aki Kaurismäki mir so gezeigt hatte. Das Kino hat eine große Macht, die Art, wie wir die Dinge sehen, zu beeinflußen, und es erzeugt Verhaltensmuster die dann Teil unseres alltäglichen Repertoires werden. Beispielsweise bin ich überzeugt, dass die Art, wie wir uns heutzutage küssen sich aus den Filmen ableitet. Ich bin sicher, man könnte darüber eine interesante empirische Studie machen. Und ist es nicht aufregend zu wissen, wer für die schönsten Momente unseres Lebens verantwortlich ist?

05.04.2022, 13:55

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