„eine glückliche, aufregende Erfahrung“

Interview Lange wollte Juliette Binoche den Roman „The Night Cleaner“ von Florence Aubenas verfilmen. Irgendwann holte die Autorin Emmanuel Carrère ins Boot und überließ den beiden das Projekt. Über Casting und Dreharbeiten spricht der Regisseur im Interview
Freundschaft, Solidarität und Herzlichkeit trotz extrem harter Lebensumstände: Die neuen Kolleginnen wachsen Marianne (Juliette Binoche) ans Herz – erste Skrupel beginnen an der Schriftstellerin zu nagen.
Freundschaft, Solidarität und Herzlichkeit trotz extrem harter Lebensumstände: Die neuen Kolleginnen wachsen Marianne (Juliette Binoche) ans Herz – erste Skrupel beginnen an der Schriftstellerin zu nagen.

Foto: Neue Visionen Filmverleih

Wie kam es zu diesem Projekt?

Lange Zeit wollte Florence Aubenas nicht, dass ihr Buch adaptiert wird. Viele Leute interessierten sich dafür, gaben aber angesichts ihrer Zurückweisung die Idee schnell wieder auf. Juliette Binoche, die das Projekt gern umsetzen wollte, blieb hartnäckig. Eines Tages erwähnte Florence plötzlich (Und ich weiß immer noch nicht, warum?) meinen Namen und sagte, es wäre doch interessant, wenn ich bei diesem Projekt beteiligt wäre. Juliette, die mich noch nicht kannte, kontaktierte mich sofort. Kurze Zeit später trafen wir uns zu dritt und Florence sagte zu uns: „Das wird eure Sache, ich will mich nicht einmischen“ – und nach mehreren Treffen waren es nur noch Juliette und ich.Überraschenderweise wählte sie mich aus, obwohl ich eigentlich gar nicht vordergründig als Regisseur arbeite. Es ist aber ein wunderbares Gefühl, wenn etwas so von außen auf einen zukommt. Das hat mich berührt. Ich habe mich noch nie so sehr in meinem Element gefühlt, wie beim Schreiben dieses Drehbuchs.

Hat es in Ihnen den Wunsch geweckt, sich noch mehr dem Kino zu widmen?

Es war eher wie Gelegenheit macht Diebe. Die beiden Filme, bei denen ich bisher auch Regie führte, machten mir sehr viel Spaß: der Dokumentarfilm Retour á Kotelnitch und das Drama La Moustache. Irgendwie lässt sich Wie im echten Leben zwischen den beiden Genres einordnen. Zunächst lag mir das dokumentarische Material vor. Da ich den urpsürnglichen Bericht aber nicht überlagern wollte, entschied ich mich schnell für Fiktion, um auch Distanz herzustellen. Der Film enthält also sehr viele zusätzliche fiktionale Elemente.

Wie sind Sie an das Schreiben des Drehbuchs herangegangen?

Wir schrieben das Drehbuch zusammen mit der Schauspielerin Hélène Devynck. Nach vielen Ansätzen und Verwerfungen gelangten wir zu unserem dramaturgischen Konzept: die Idee einer Freundschaft, die enger und intimer ist als die der anderen. Ich entwickelte diese besondere Freundschaft mit all ihrer Konsequenz: das Gefühl des Verrats, wenn die Protagonistin offenbart, wer sie wirklich ist.

Währenddessen greifen Sie auch in dieser sozialen Chronikdie für Sie wiederkehrenden Themen Täuschung und Lüge auf, denen Sie sich seit ihrem biografischen Roman The Adversary widmen...

Ich tendiere dazu, aus meinen Gemütslagen und Skrupeln eine große Sache zu machen. Deshalb änderte ich den Namen der Hauptfigur und betonte, dass sie Autorin und keine Journalistin ist.

Wie ging es nach dem Drehbuchentwurf weiter?

Wir begannen frühzeitig mit dem Casting, zusammen der Castingagentin Elsa Pharaon. Ich verbrachte auch sehr viel Zeit in der nordfranzösischen Hafenstadt Caen und lernte viele Menschen kennen. Wir legten schon zu Beginn fest, dass wir neben Juliette Binoche keine weiteren professionellen Schauspieler wollten. Zwei Figuren verkörpern sich tatsächlich selbst: die Fährarbeiterin Nadège und Justine, die ihre Abschiedsparty feiert. Die beiden sind so etwas wie historische Figuren in der Hafengegend Ouistreham. Ich traf mich auf Empfehlung von Florence mit Evelyne Borée, die Nadège spielt. Die beiden haben eine enge freundschaftliche Beziehung seit dem Buch. Unser erstes Treffen hatte etwas Magisches: nachdem sie eine kleine Probeaufnahme gemacht hatte, war Evelyne in 30 Sekunden klar, dass sie gerne schauspielert! Und esist wirklich offensichtlich; sie hat diese Autorität und diese Authentizität, die sie während der Dreharbeiten beibehielt.

Können Sie uns mehr über das Casting erzählen?

Es gab unterschiedliche Vorgänge. Wir baten die Teilnehmer, zu den Filmthemen zu improvisieren oder über sich selbst zu sprechen. Nachdem das Casting abgeschlossen war, haben wir in den sechs Monaten vor dem Dreh mehrere Workshops in Caen durchgeführt, alle zwei Wochen. Es war eine Möglichkeit, sich kennenzulernen – wie bei einer Theatergruppe: Alle waren glücklich über diese Treffen, bei denen nichts auf dem Spiel stand und die mit einer kleinen Kamera gefilmt wurden. So haben wir uns langsam den Dreharbeiten genähert.

Wann haben Sie sich für Hélène Lambert in der Rolle der Christèle entschieden? Angesichts der Bedeutung dieser Rolle hätten Sie auch eine professionelle Schauspielerin engagieren können...

Hätten wir zwei Schauspielerinnen für die Hauptrollen ausgewählt, während die anderen als Statisten mehr oder weniger im Hintergrund bleiben, wäre es eine unangenehme Erfahrung geworden. Juliette Binoche leistete einen großen Beitrag, als sie sich bereit erklärte, auf demselben Niveau wie die anderen zu spielen. Ich wusste, dass sie eine großartige Schauspielerin ist, aber ihre Bescheidenheit und Großzügigkeit haben mich verblüfft... Anfangs waren die Frauen etwas ängstlich, da Juliette ein großer französischer Star ist, aber sie hat sie schnell für sich gewonnen. Alles wurde natürlich und freundlich.Um auf Hélène zurückzukommen: sie weiß diese Wut, diese Bitterkeit auszudrücken, die sich schon in der ersten Szene äußert, die wir in der französischen Behörde Pôle Emploi drehten (französische Regierungsbehörde, die Arbeitslose registriert, ihnen bei der Arbeitssuche hilft und sie finanziell unterstützt). Wir improvisierten diese Szene, und sie legte viel mehr aggressive Kraft hinein als im ursprünglichen Dialog vorgesehen war. Ihre Beziehung zu Juliette ergab den Rest. Juliette navigierte die Schauspieler mindestens so sehr wie ich, nicht indem sie ihnen Anweisungen gab, sondern durch die Art und Weise, wie sie mit ihnen agierte.

Wie war die Zusammenarbeit mit Juliette Binoche?

Sie arbeitet die ganze Zeit! Mit ihr Mittag zu essen, bedeutet zu arbeiten. Man darf auch nicht vergessen, dass der Film auf ihr Engagement hin und auf ihren Wunsch hin zustande kam. Es ist so gesehen ihr Projekt. Was mich aber am meisten erstaunte, war ihre große Freundlichkeit. Ja, das ist wirklich das richtige Wort.Eigentlich weiß ich gar nicht, was „Regie führen bei Schauspielern“ bedeutet. Zu Beginn der Dreharbeiten war ich der Regisseur und dachte, ich müsste ihnen Anweisungen geben und sagen, was ihre Figuren fühlen sollten. Nach ca. drei Tagen nahm mich Juliette dann zur Seite und sagte: „Ich möchte dich um etwas bitten: Versuch bei den ersten Aufnahmen nicht, mich zu leiten. Lass mich zunächst mein eigenes Ding machen und den Weg selbst herausfinden. Wenn du danach nicht zufrieden bist, sagst du es mir natürlich.“ Das war für mich eine wertvolle Lektion. Von da an habe ich versucht, bei den Schauspielern noch weniger Regie zu führen – nicht nur bei Juliette.

Wie sind Sie dann bei der Inszenierung und dem Schnitt vorgegangen?

Ich hatte einen großartigen Partner, den Kameramann Patrick Blossier, mit dem ich schon früher gearbeitet habe und den ich sehr schätze. Mit so erfahrenen Partnern wie ihm und Jean-Pierre Duret in der Tonabteilung weiß ich, dass das Schiff sicher nach Hause kommen wird. Patrick ist sehr gut, er arbeitete u.a. mit Costa-Gavras und Alain Cavalier. Wir einigten uns auf eine klassische und zurückhaltende Inszenierung. Wir wussten, dass dies der optimale Weg war, um das Beste aus den Darstellungen herauszuholen. Und Patrick hat oft brillante Ideen. Er bestand beispielsweise darauf, dassich die Produzenten um diese beiden eher ungewöhnlichen Dinge bitte: einen „Testtag“ am Anfang der Dreharbeiten und einen „Überarbeitungstag“ am Ende. Wir spielten die Szene im französischen Arbeitsamt Pôle Emploi vor Drehbeginn einmal trocken durch. Und am Ende der Dreharbeiten hatten wir einen Tag außerhalb des Zeitplans geplant und sorgfältig aufgespart, um Dinge zu drehen, die uns noch fehlten oder von denen wir dachten, sie seien noch nicht gelungen.Diese Anfrage verblüffte die Produzenten Olivier Delbosc und David Gauquié zunächst, aber da sie beide aufgeschlossen sind und immer gerne etwas ausprobieren, sagten sie: „Ja, lass es uns machen!“. Auch wenn zwei leere, nicht zugewiesene Tage in einem straffen Drehplan wirklich ungewöhnlich sind.

Kontrollieren Sie viel am Set?

Nicht wirklich. Als Regisseur muss ich mir zugute halten, dass ich es nicht übertreibe. Ich ziehe es vor, die Dinge geschehen zu lassen und zu delegieren. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum die Atmosphäre bei diesem sehr anstrengenden Dreh (sieben Wochen, ständig wechselnde Sets, oft Dreharbeiten bei Nacht und unter schwierigen Bedingungen wie auf der Fähre) sehr angenehm blieb. Alle hatten das Gefühl, dass man ihnen vertraute und dass sie das Beste aus sich herausholen konnten.

Drehten Sie mit mehreren Kameras?

Wir verwendeten eine etwas ungewöhnliche Gestaltung. Ich habe gewissermaßen meine beiden vorherigen Filme kombiniert und nicht nur Patrick Blossier, sondern auch Philippe Lagnier, den Kameramann von Retour á Kotelnitch, ins Boot geholt. Er ist kein Kameramann für Kinofilme, sondern Dokumentarfilmer. Er ist es gewohnt, allein zu arbeiten oder nur mit einem Tontechniker zusammen. Ich bot ihm zwei Dinge an: einerseits die zweite Kameraführung in den Szenen mit mehreren Personen oder an bestimmten Schauplätzen, um Zeit zu sparen. Andererseits sagte ich ihm: „Geh während des Drehs, wenn du nicht die zweite Kamera bist, spazieren und filme, was du möchtest. Ich will diese Aufnahmen nicht sehen, ich will auch nicht, dass die Produktion sie sieht, ich will sie in der Schnittphase entdecken.“ Wir nannten diese Aufnahmen „mystery shots“. Es war so etwas wie der „Testtag“ und der „Überarbeitungstag“, kleine Besonderheiten der Dreharbeiten, und Gegenstand von Gesprächen innerhalb der Crew (sowohl amüsiert als auch begeistert).Schließlich kam Philippe mit etwa 40 dieser geheimnisvollen Aufnahmen zurück und sagte mir, dass er glücklich wäre, wenn ich ein oder zwei behalten würde. Es sind vierundzwanzig im Film! Sie sind unglaublich schön. Ich bin froh, dass ich dem poetischen Blick von Philippe Lagnier vertrauthabe und mir damals sagte: „Das wird den Film auf eine Weise bereichern, die ich noch nicht verstehe, die ich mir nicht vorstellen kann...

Im Allgemeinen mag ich es, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen und ich nicht die Kontrolle über alles habe. Je mehr Initiative man talentierten Teamkollegen gibt, die sich sehr für das Projekt engagieren, desto mehr überraschende Dinge können passieren.

Sein Bezug zur Realität verleiht dem Film auch seine Wahrhaftigkeit...

Ich hoffe, dass es das tut. Ich habe mir von Anfang an gesagt, egal wie kurz meine Erfahrungen als Regisseur sind, dass wenn die Chemie zwischen Juliette Binoche und den anderen Schauspielern stimmt, es der Film verdient hat, gesehen zu werden. Und davon war ich schon früh überzeugt. Ich konnte es während der Dreharbeiten spüren, sah die Freude, die sie am gemeinsamen Spiel hatten.

Waren die Aufnahmen der Migranten am Straßenrand vor den Dreharbeiten geplant?

Es war kompliziert. Es gibt Migranten in Ouistreham, das kann man nicht ignorieren. Aber ich wollte nicht das typisch linke gute Gewissen an den Tag legen und verlangen, dasswir sie in den Film aufnehmen, als ob man ein Kästchen ankreuzt. Wir drehten eine spektakuläre Szene mit falschen Migranten. Ich fand es schlimm und wusste, sobald wir ins Hotel zurückkehrten, würden wir es rausschneiden. Ich wollte es mir nicht einmal ansehen.Dann machte Philippe allein in der Nähe des Hafens Ouistreham sehr schöne Dokumentaraufnahmen. Wir sehen die Migranten zusammen mit anderen am Straßenrand, als Marianne zum ersten Mal mit Christèle zur Fähre fährt. Ich finde, diese Aufnahmen und Christèles Satz über den Sudan verdeutlichen sehr gut, welchen Platz die Migranten im Leben dieser Frauen einnehmen: Die Migranten sind da, die Frauen sehen sie, sie gehen an ihnen vorbei, und die Migranten verschwinden wieder in der Nacht – das war‘s.

Musik spielt eine sehr wichtige Rolle im Film...

Ein Freund empfahl mir Mathieu Lamboley, einen jungen Komponisten, der zwar bereits über Erfahrung verfügt, aber in der Filmmusik noch nicht sehr bekannt ist. Zusätzlich zu seinem Talent verfügt er über die Flexibilität und Verfügbarkeit von Menschen, die noch nicht so etabliert sind. Ich habe ihm einen Rohschnitt des Films gezeigt und ihm gesagt, dass ich gern einen eindringlichen und „aufwirbelnden“ Effekt hätte. Im Laufe des Wochenendes hatte er eine Idee, die das Hauptthema des Films werden sollte. Ich war sofortbegeistert, ebenso wie Olivier Delbosc, der Musik wirklich liebt und sich auch sehr dafür interessiert. Das Beste daran ist, dass Mathieu mit der Vertonung des Films früher als sonst begonnen hat, nämlich noch während des Schnitts: So konnten wir drei gemeinsam nach dem Richtigen suchen.

Bedeutet dieser Film für Sie einen neuen Weg ins Filmgeschäft?

Ich weiß es noch nicht. Aber ich bin froh, dass ich es getan habe, denn es war unerwartet, und ich hätte nicht spontan daran gedacht. Es war eine glückliche, aufregende Erfahrung. Und ich habe eine Menge über Schauspieler gelernt, sowohl von Juliette als auch von ihren Partnern.

28.06.2022, 18:29

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