Raffiniertes Filmkunstwerk

Hintergründe Anders Østergaard ist ein visuelles Kunstwerk gelungen. Eindrucksvoll und elegant verknüpft er Dokumentarisches mit Spielszenen. In Bruno Ganz hat er einen fabelhaften Darsteller des vor dem Nazi-Regime geflüchteten Günther Goldsmith gefunden ...
Der junge Günther Goldsmith (Leonard Scheicher)
Der junge Günther Goldsmith (Leonard Scheicher)

Foto: RealFiction Filme

Ein eindringlicher Film mit kluger Dramaturgie, bestechender Verknüpfung von Dokumentarischem und Spielszenen sowie einem großartigen Hauptdarsteller Bruno Ganz. Martin, der erwachsene Sohn des vor dem Nationalsozialismus in die USA geflüchteten Flötisten Günther Goldschmidt (Bruno Ganz) läßt nicht locker, um etwas über das frühere Leben seines Vaters und der Familie in Deutschland zu erfahren. Obwohl selbst nicht im Bild, ist Martin mit seiner Stimme (gesprochen vom realen Sohn, der diese Exploration selbst betrieben hatte) als beharrlich Fragender, Erzähler und Kommentator präsent und treibt die erinnernde Rückschau voran. Eindrucksvoll unaufdringlich spiegelt sich im Gesicht von Bruno Ganz der Wandel von anfänglicher Abwehr, bitteren Erinnerungen, beglückter Rückschau auf die Liebe zu seiner späteren Frau bis hin zur inneren Klarheit, wenn er dem Sohn seine und die Geschichte der Familie (deren andere Mitglieder der Shoa zum Opfer fielen) preisgibt und erklärt.

Die Dramaturgie verbindet verschiedene Zeitebenen in wechselnden Rückblenden: das Leben des Vaters, der im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz erhielt, die Jugend in Deutschland, der Hinauswurf des jüdischen Musikstudenten 1935, die Berliner Zeit im Jüdischen Kulturbund bis 1941, die gerade noch geglückte Emigration, der abgebrochene Versuch, 1962 nochmals das Elternhaus in Osnabrück aufzusuchen und die Gespräche und Telefonate mit dem Sohn in der Erzählgegenwart der Jahre 1996ff. Die Montage von filmischen und fotographischen Zeitdokumenten, Dokumenten des Jüdischen Kulturbunds, nachgespielten historischen Szenen und dem Spiel in der Erzählgegenwart in Goldschmidts Haus, Garten und Umgebung in Tucson, Arizona, ist – im Wortsinn – meisterhaft. Das Gesamtgeschehen bleibt dabei jederzeit nachvollziehbar. Bestechend auch die veranschaulichte Rekonstruktion des Dokumentarischen, wenn sich der Protagonist durch historische Fotos bewegt.

Die – der Wirklichkeit nacherzählte – Lebensgeschichte des Flötisten Günther Goldschmidt wurzelt im alltäglichen Leben, ist stringent und glaubwürdig. Aus seiner Biographie heraus werden nicht nur die Zeitumstände und Lebensbedingungen der deutschen Juden vor und nach 1933 bis zur Shoa bzw. dem Einzelfall des glücklichen Entkommens sichtbar. Sie macht auch das Wirken und die problematische Ambivalenz des Kulturbunds deutscher Juden (der 1935 in Jüdischer Kulturbund umbenannt werden mußte) deutlich. Durch die individuelle Sicht des Protagonisten und die dokumentarische Einbeziehung der führenden Personen – des Intendanten Kurt Singer und des Reichskulturwalters Hans Hinkel sowie des musikalischen Leiters und Dirigenten Rudolf Schwarz – wird die ganze Ambivalenz des Jüdischen Kulturbunds anschaulich. Zwar war er die einzige Arbeitsmöglichkeit jüdischer Künstler nach 1933 und ein Ort kultureller Selbstbehauptung, insgesamt jedoch ein von den Nationalsozialisten kontrolliertes Ghetto und letztlich eine tödliche Falle. Als vormaliger Direktor des Archivs der Berliner Akademie der Künste, der die dortige große Sammlung zum Kulturbund aufgebaut und 1992 die große Ausstellung „Geschlossene Vorstellung – Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933 – 1941“ verantwortet hat, kann ich anmerken, dass der Film „Winterreise“ die Realität des Kulturbunds genau und im individuellen Erleben höchst eindringlich darstellt. Der Verzicht auf zugespitzte Effekte läßt die immanente Dramatik des historischen Geschehens unaufdringlich, aber unübersehbar in Erscheinung treten. Was für ein Glücksfall!

Wolfgang Trautwein, am 31. 8. 2020

21.10.2020, 14:28

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