Niemand raschelt, niemand spricht. Gespannte Stille. Dicht gedrängt sitzen die Menschen in der Dunkelheit des Kinosaals der Kinemathek des Museums für Zeitgenössische Kunst in Teheran. Die Köpfe emporgereckt, gespannt auf das, was jetzt auf die Leinwand geworfen wird. 400 Menschen sind gekommen, um zu sehen, was ihnen 40 Jahre vorenthalten blieb.
Eröffnungsabend, erste Sequenz: Heinz Lieven ruft sein „Aufstehen“ als Prolog von Ordnung – als sei es programmatisch für diese Retrospektive, die Sohrab Shahid Saless gewidmet ist und die seit 20. Februar zehn Tage lang in Teheran stattfindet. Es ist keine Retrospektive mit Anspruch auf Vollständigkeit des Werks, sondern mit dem Ziel, das Unbekannte sichtbar zu machen: Filme von Saless, die zwis
on Saless, die zwischen 1974 und 1991 in Deutschland entstanden und noch nie in seiner iranischen Heimat gezeigt wurden.Saless emigrierte 1974 in die BRD, nachdem er einige Kurzfilme und zwei Langfilme, Still Life und A Simple Event, in Iran gedreht hatte. Er floh vor den Restriktionen des Schah-Regimes, obwohl seinen Filmen große Aufmerksamkeit zuteil geworden war. Noch heute gilt für die iranischen Cinephilen, dass die Bilder eines Abbas Kiarostami nur durch die gemeinsame Arbeit mit Saless entstehen konnten. In Berlin wurden 1974 beide Filme bei den Internationalen Filmfestspielen gezeigt: Still Life im Wettbewerb und A Simple Event im Forum. Nach dem Silbernen Bären folgten weitere Preise, ehe die sich verändernden deutschen Produktionspolitiken Saless nach der Einheit keinen Platz mehr boten.Licht schluckenEin weiterer Tag im Kino. Die Dokumentarfilme sind programmiert. Die Erwartung, nur ein kleines Publikum anzutreffen, wird schon durch die Menschenmenge vor dem Museum im Laleh-Park negiert. Nach der Sicherheitskontrolle geht es in die Dunkelheit. Die schwere Architektur aus Beton schluckt das Licht wie ein Bunker. Als der Bau 1977 fertiggestellt wurde, war Saless schon nicht mehr hier. Der Weg zum Kinosaal führt durch eine riesige Rotunde hinab in ein Untergeschoss, dessen Seitenflügel unerwartet den Kinosaal beherbergt.Heute ist der Andrang so groß, dass die 350 Plätze nicht ausreichen; es muss nachbestuhlt werden. Niemand wird abgewiesen. Junge Mädchen aus der Universität, die gekommen sind, um die Originalsprache zu hören, sitzen neben Cinephilen, Schriftstellern und Kritikerinnen, die die iranischen Filme von Saless bereits kennen und jetzt emphatisch vergleichen, analysieren, diskutieren. Kurator Reza Haeri lässt Brüche zu. An einigen Tagen ist nach der Vorführung eine Debatte möglich, an anderen nicht. In Teheran kann man nie wissen, was am nächsten Tag gilt. Wird die Debatte gestattet, verlässt kaum jemand den Saal mit dem Abspann.In Deutschland kennt heute kaum jemand die Filme von Saless. Weder die Filmwissenschaft noch angehende Regisseurinnen der Filmhochschulen. Das mag auch an der Zugänglichkeit des Werks liegen. Das Filmmaterial ist verstreut: in Fernsehinstitutionen, die keine Archive sind und deren Idee vom öffentlich-rechtlichen Auftrag mit der Fernsehausstrahlung endet; in Filmarchiven, deren Sammelleidenschaft zum Verschluss führt. Nachdem in Berlin im letzten Jahr eine erste Werkschau zu Saless gemacht worden ist (Freitag 22/2016), scheint die Erinnerung wieder reanimiert.Der Iran braucht diese Reanimation nicht. Erinnerungskultur funktioniert hier anders. Sie wird durch politische Unterdrückung essenziell, um Zukünfte zu entwickeln. Keiner hat Saless vergessen, so viel wird deutlich, wenn man die Filmabende in Teheran miterlebt. Es scheint, als hätten alle auf den Moment gewartet, sich gar auf ihn vorbereitet. Ein Moment, in dem für Minuten ein Mehr an Freiheit und Zugang zu kulturellen Bedürfnissen herrscht.Haeri hat selbst gewartet. Schon vor Jahren, als er sich in Deutschland alte Videobänder der Filme ansah, reifte der Wunsch, die unbekannten deutschen Filme in Iran zu zeigen. Bei der Eröffnung wirkt es, als würde er dem Frieden nicht trauen, bis das erste Bild mit persischen Untertiteln auf die Leinwand projiziert wird.In Zusammenarbeit mit der Deutschen Botschaft und dem Museum für Zeitgenössische Kunst hat Haeri es geschafft, den vermeintlich anderen Saless zurück nach Teheran zu bringen – ein langer Weg durch die Labyrinthe der Institutionen, Rechteinhaber und die Zensurbehörde des Landes. Es ist erstaunlich, wie wenig Bilder der Zensur zum Opfer gefallen sind: Drei von neun Filme wurden um Nacktheit, Umarmungen und Sexualität gekürzt. Ein Trost ist, dass solche Eingriffe heute nur das digitalisierte Material treffen. Oder wenn die Spuren der Zensur – verpixelte Flächen oder Zoom – von der Reaktion des Publikums selbst karikiert werden. Ein Film fällt jedoch ganz weg: Utopia von 1983, der den Alltag eines Berliner Bordells und die Lebensordnung eines von Manfred Zapatka gespielten Zuhälters beschreibt. Es gibt Stimmen, die die Eingriffe beklagen. Doch aus welcher Haltung heraus? Beschreiben nicht gerade die Auslassungen den Zustand eines Landes, dessen Alltag immer noch durch Unterdrückung strukturiert ist? Versucht man die Momente der Zensur zu erkennen, erzeugt der Stil von Saless wie in Reifezeit (1976) oder Der Weidenbaum (1984) ein Verwirrspiel. Das rhythmisierende Abblenden von einzelnen Sequenzen verhandelt die Methode und den Eingriff der Zensur schon mit.Hemden aufknöpfenAuf der Leinwand läuft in mittlerweile gewohnt schlechter Qualität Grabbes letzter Sommer, eine Fernsehproduktion von 1981. Die widerständige Figur des Vormärzes bekennt: „Ich bin nicht zynisch, zynisch ist nur die Gesellschaft. Ich knöpfe ihr nur die Hemden auf.“ Der Gesellschaft die Hemden aufknöpfen, freilegen, was die Gesellschaft zusammenhält oder besser: teilt, das ließe sich auch Saless’ Filmen zuschreiben. Und dabei sind es nicht nur die Stoffe, durch die er die Verhältnisse der BRD zeigt, es sind vielmehr Fragen, die erst aus der filmischen Form entstehen. Schon vor der Emigration lernte Saless das Filmemachen in Paris und Wien. Die Bewegungen seiner Biografie erscheinen als Momente, in denen sich der Blick ändert und exakte Beobachtung von scheinbar Selbstverständlichem möglich wird.Die Erfahrungen in Teheran stellen dem Kino der Zukunft Fragen: Wie werden wir Filmgeschichte schreiben zu einer Zeit, in der Emigration alltäglich ist? Wer kümmert sich um ein transnationales Filmerbe? Kino, das zeigt sich in Teheran beim Schauen der Saless-Filme, kann etwas Besonderes sein, politische Kraft in Form und Inhalt vereinen. Verrutscht einmal ein Kopftuch in der Dunkelheit des Saals und braucht die Debatte keine Aufforderung, zeigt sich eine Dynamik, von der man mehr erleben möchte.
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