Bremer Staatsmusikanten

RAF Carolin Emckes Vorschlag für einen anderen Umgang mit der RAF-Geschichte ist theoretisch zu begrüßen, praktisch aber wohl illusorisch

Die Gedenkreden und Talkshowrunden sind vorbei, die Bücher aus Anlass des 30. Jahrestages des Deutschen Herbstes längst wieder aus den Regalen geräumt - ein günstiger Zeitpunkt, sich mit dem Thema RAF zu befassen: Es besteht die Chance, Überlegungen zu Gehör zu bringen, die von den ausgetretenen Pfaden der repressiven Inneren Sicherheit fortführen. Die Publizistin Carolin Emcke hat jetzt mit einigem Nachdruck den zuvor bereits vereinzelt geäußerten Vorschlag unterbreitet, in Sachen RAF eine Amnestie für das Ende des Schweigens zu erlassen. Die Gefangenen aus der RAF sollen über ihre Taten sprechen - und dafür entlassen werden. Noch nicht gefasste Mitglieder der vor Jahren aufgelösten Gruppe soll die Haft ganz erspart bleiben: "Ohne ein Angebot, das sich an alle richtet, die bekannten und die unbekannten Täter, wird es keine Aufklärung geben."

Carolin Emcke, die als Reporterin in Bürgerkriegsregionen unterwegs war und die als Dozentin an der Yale Universität unter anderem über "Zeugenschaft von Kriegsverbrechen" gelehrt hat, schöpft aus Erfahrungen, die andernorts mit der Bewältigung von politisch motivierter Gewalt gemacht wurden. Für die bundesdeutsche Auseinandersetzung, die durch moralische Empörung und ein streng strafrechtlich aufgezogenes Raster geprägt ist, ist das bereichernd. Über die RAF zu reden und dabei auf die Möglichkeiten der Transitional Justice zu schauen, die in lateinamerikanischen Staaten oder in Südafrika erprobt wurden, bringt günstigstenfalls erstarrte Fronten in Bewegung - wenngleich schwer vorstellbar ist, dass der Tausch Wissen gegen Freiheit wirklich funktioniert. Dagegen stehen auch praktische Erwägungen: Wie kann eine Amnestie unter Bedingungen formuliert werden? Wie wäre sicherzustellen, dass die Bedingung erfüllt wird, dass die Täter tatsächlich reden und - noch schwieriger - wer entscheidet, ob das Gesagte zur Findung der wahren Wahrheit beiträgt?

Wer verfolgt, was in der Vergangenheit diejenigen zu erzählen wussten, die sich aus der RAF verabschiedet hatten und wer liest, was aus langjähriger Haft Entlassene heute schreiben, erhält einen Eindruck davon, dass wohl nicht nur die Sorgen wegen drohender Strafverfolgung bewirken, dass Einzelheiten der Attentate gar nicht erwähnt oder auch sehr widersprüchlich beschrieben werden: Es geht auch um eigene Lebensgeschichten und das Bild in der Geschichte, um die Möglichkeiten vor sich selbst zu bestehen.

Auch ist, wie Emcke selbst weiß, die Wahrheit in der Auseinandersetzung RAF und Bundesrepublik Deutschland kein nur auf einer Seite zu gewinnendes Gut. Zu 1977 gehört das Wissen darum, wer die Waffe auf den damaligen Generalbundesanwalt Buback abgefeuert, wer die wehrlose Geisel Hanns Martin Schleyer erschossen hat - es gehört auch dazu, zu erfahren, was die deutschen Staatsschützer wussten, warum die Strafjustiz das nicht erfuhr, warum es Kronzeugen gab, ohne dass eine Kronzeugenregelung existierte. Auch die Fakten aus den Akten (zum Beispiel des Krisenstabes), die Kenntnisse der verantwortlichen Politiker, die Protokolle, in denen auf Entscheidungsebenen wie bei der Kontaktsperre offener Rechtsbruch beschlossen wurde, gehören zur Wahrheit.

Wahrheitskommissionen und Transitional Justice sind nicht zufällig Begleiterscheinungen von Gesellschaften in Phasen eines grundlegenden Umbruchs - das ist Deutschland, allen Veränderungen im Einzelnen zum Trotz nicht und schon gar nicht bezogen auf die RAF. Andererseits hat Emcke mit ihrem Befund unbezweifelbar recht, dass "unter der Prämisse der Strafverfolgung die Wahrheit nicht gehoben werden (wird)". Es wird so zwar niemand, die Bremer Stadtmusikanten paraphrasierend, sagen können, etwas Besseres als die Strafjustiz finden wir überall. Aber angesichts der insgesamt trostlosen Bilanz der strafrechtlichen Bewältigungsversuche sollte schon eine kleine Hoffnung ausreichen, den Versuch einer solchen diskursiven Lösung voranzutreiben.

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