New York für Blinde

Reisefragmente Das Klappern der Hufe am Central Park, das Kratzen der Schlittschuhe am Rockefeller Center, die Stille des Müllhaufens in den Hinterhöfen. Eine Stadttour in Klängen

New York für Blinde: wie ein Spaziergang auf einem riesigen, erhabenen Stadtplan. Die nummerierten, im Schachbrettmuster angeordneten Straßen machen die Orientierung zum logischen Kinderspiel: Wir brauchen nur die Kreuzungen zu zählen und wissen immer, wo wir gerade sind. Nur wer sich wie meine Führerin von den Schatten verwirren lässt, mit denen die Wolkenkratzer die Entfernungen zwischen den Blöcken verzerren, verschätzt sich. Wie weit noch bis zur 5th Avenue, zur St. Patrick’s Kathedrale? Keine Ahnung, sagt sie. Zuckt bockig mit den Schultern und befiehlt mir das Abwarten. Nur wer das Zählen der Schritte für überflüssig hält, wird von den Spiegelbildern der Schaufenster angesogen und rennt an den vereinbarten Zielen vorbei.

New York für Ohrenmenschen. Jede Stadt hat ihre Melodie, und New York klingt ziemlich grell. Ich filtere Signalschreie aus der Tonkulisse, lauter Hilferufe, viel Exaltiertes, Bässe, die in den Magen trommeln. Musik, um den Hals gehängt, sprengt die Käfige ihrer Kopfhörer und rhythmisiert die Schritte der Fußgänger. Hip-Hop. Hip-Hop. Polizeisirenen buchstabieren Gefahrenzonen in die Luft. Mich fesselt die angespannte Stille dort, wo sich der Müll türmt. „Komm schon!“ Meine Begleiterin zerrt mich weiter. Sie versteht nicht, was ich ausgerechnet an diesem stinkenden Hinterhof aufzeichnen will. Nein, zu fotografieren gibt es nichts. Aber mein Zeigefinder schiebt mit einem Druck auf die Aufnahmetaste des Recorders Tonfotos aus diesen Sekunden in die Ewigkeit. Die Stille. Das ungeduldige „Kommschon!“ Ich konserviere alles. Die Hufe der Kutschpferde am Central Park, das Kratzen von Schlittschuh-Kufen, aufgenommen an der Eisbahn des Rockefeller Centers.

Ich werde alle Bewegungen, alle Lebenswirbel nach Hause tragen und archivieren, ohne ihnen die Flügel zu stutzen. Für meine Gefährtin wird das Nachhören zum Ratespiel. Ihr Gehör verirrt sich im ohrenbetäubenden Klappern, Stuhlrücken und Geschrei. Wo das war? In der Oyster Bar. Wir haben uns stumm gegenüber gesessen, weil wir unmöglich gegen den Lärm in dem Restaurant anschreien konnten, und vor meiner verschnupften Nase erkaltete unberührt, unbemerkt, unregistriert ein Haisteak. Irgendwann fiel meiner Freundin auf, dass ich nicht aß. „Ich dachte, du hättest keinen Hunger,“ entschuldigte sie sich.

Blind zwischen all den Ansichtskarten

New York für Sensationsgierige. Wie ist das, wenn sie der Freiheitsstatue zu Füßen stehen und sich gegen das Geländer in Richtung Hafen lehnen: kein Panorama, kein Ausblick auf keine Skyline. Wie ist das, wenn wir uns abends über den Broadway drängen: keine Neonreklamen, keine Lichtfontänen, nur dieses Meer von Schritten, in dem wir gegen den Untergang kämpfen. Die Straßen sind mit spitzen Schultern und Ellbogen gespickt. Keine Wanderung ohne blaue Flecken. Wie ist das: Blind zwischen all den Ansichtskarten?

Als die taubblinde Helen Keller einmal gefragt wurde, was sie um Himmels Willen von dem Besuch der Niagara‑Fälle habe, antwortete sie: „Es ist von unermeßlicher Bedeutung für mich, hier zu sein.“ Einfach hier zu sein. Von unermesslicher Bedeutung.

New York für Auswanderer. Am letzten Tag setzen wir zur Insel der Tränen über: Ellis Island. Alle, die in die neue Welt einwandern wollen, werden hier gemessen und gewogen, für zu leicht, zu schwer oder gerade noch passend befunden. Die Gischt perlt mir von den Brillengläsern, bis die Fähre vor dieser Insel der Tränen anlegt. Wir wandern zur Halle des Immigrationsgebäudes und stehen neben dem Gepäck von Auswanderern, die nie bis New York kamen. Ich hebe einen hundertjährigen Koffer an: Alles, was der Besitzer mit ins neue Leben nehmen wollte, wiegt immer noch viel zu schwer. Unter den Balkonen dieser Halle der Hoffnung hat sich das Echo von Emigrantenstimmen verfangen. Ich höre sie lachen und weinen, immer noch. Ihre Enttäuschungen haben sich neben den Glücks-Spuren in der Luft gehalten, über Abreise und Einreise hinweg.

„Was redest du da? Mit wem sprichst du?“ Ich behaupte, die Sprache von Gespenstern zu verstehen. Aber meine Freundin, ein Augenmensch, sieht nur Touristen.

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