Seit einigen Jahren existieren Reihen zu den 100 besten Filmen, wichtigsten Romanen, herausragendsten Graphic Novels und größten Songs der Popgeschichte. Bücher versprechen Bildung – Alles was wir wissen müssen oder heißen schlicht Kanon. Wir leben im Zeitalter der Kanonbildung.
Nun sind solche Kanonisierungen höchst fragwürdig, sie sind nicht objektiv, schließen aus, übersehen vieles und wirken hierarisierend, man weiß es. Es gibt aber auch intelligente Beiträge zur Kanonbildung, die sich dieser Probleme bewusst sind (und es doch nicht lassen können).
The Graphic Canon ist so ein Beitrag, er versteht sich, wie es im Vorwort zur deutschen Ausgabe heißt, als ein „wucherndes internationales Projekt“. Auf einen k
internationales Projekt“. Auf einen kanonischen Überblick zur Comicgeschichte haben die Leser scheinbar noch zu warten, ein Werk zu den Möglichkeiten wie auch Grenzen der Engführung zweier Medien wie Literatur und Comic bekommen sie aber nun vorgelegt. Der erste Band dieser Weltliteratur als Graphic Novel reicht von Gilgamesch über Shakespeare bis Gefährliche Liebschaften, umfasst also die Weltliteratur bis zum 18. Jahrhundert – Band 2 wird das 19., Band 3 das 20. Jahrhundert behandeln, und führt sie mit Comiczeichnern der Gegenwart zusammen.Aber es sind nicht die Comiczeichner, von denen nur wenige wie Will Eisner oder Robert Crumb zum „Kanon“ gehören, sondern die literarischen Vorlagen, die im Mittelpunkt stehen – und natürlich deren Übersetzung ins Medium Comic. Ein Mammutprojekt, das es auf insgesamt 1.500 großformatige Buchseiten bringen wird, von denen über zwei Drittel eigens für die Anthologie angefertigt wurden.Breit gefächertNoch vor der Frage nach der Bildsprache dieser Comics springt die Auswahl der literarischen Vorlagen ins Auge. Zwar wird der Band dominiert von den Werken der westlichen Kultur, vom Alten Testament, von Dante und Cervantes, von Shakespeare und Voltaire, aber man findet darin auch indianische Märchen und jene aus 1001 Nacht, japanisches No-Theater, das tibetische Totenbuch, ein Inka-Schauspiel und das Popol Vuh, das heilige Buch der Schöpfung der Quiché-Maya. Darüber hinaus, und dies lässt das Projekt umso spannender erscheinen, haben die Lizenznehmer die Möglichkeit, den Übersetzungen weitere kanonische Werke des eigenen Landes hinzuzufügen. So ist die deutsche Ausgabe um eine Interpretation des Nibelungenliedes durch Kat Menschik erweitert, und es dürfte interessant sein, was etwa die türkischen (bislang vertreten durch Gedichte von Rumi) oder polnischen Verleger – ohne kanonisches Werk im Buch – ergänzen werden. Erfrischend auch der breite Literaturbegriff des Herausgebers Russ Kick, der beispielsweise Die Verteidigung der Frauenrechte von Mary Wollenstonecraft (wenn auch der Beitrag von Ryan Dunlavey und Fred Van Lente eher eine biografische Skizze der Frauenrechtlerin ist) ins Buch integriert hat und für die Folgebände unter anderem Freuds Traumdeutung, Also sprach Zarathustra von Friedrich Nietzsche und Darwins Die Entstehung der Arten ankündigt.Ein angenehm unkanonischer Kanon also, noch dazu in der erst langsam sich kanonisierenden Form des Comics. Wie breit gefächert diese Form ist – auch dies zeigt The Graphic Canon; die Beiträge reichen von klassischer Action-Comic-Ästhetik über eher karikaturhafte Adaptionen und aufwendige Grafiken bis hin zu am Underground-Comic geschulten, kargen schwarz-weißen Storys.Comicadaptionen literarischer Werke liegen im Trend, Verlage wie Suhrkamp haben eigens eine Buchreihe etabliert, in der zeitgenössische Comiczeichner Werke des eigenen Verlags interpretieren. Diese besitzen zwar, wie Nicolas Mahlers Thomas-Bernhard-Interpretationen, Charme und Witz, in den Kanon wichtiger und wegweisender Graphic Novels werden sie jedoch wohl kaum aufgenommen werden, zu oft bleibt bei der Lektüre der Mehrwert des Projektes unklar – und dies ist dann auch teilweise das Problem des Graphic Canon.Interessant ist die Umsetzung einer existierenden Vorlage vor allem dann, wenn sie über das Original herausweist, einen originellen Umgang mit dem vorhandenen Material findet und auch Kennern der Texte Neues mitzuteilen weiß. Bei 60 Beiträgen wäre es vermessen, diese Erwartungshaltung an alle Beiträge heranzutragen. Etwas uneindeutig bleibt auch die Rolle des Herausgebers, der zwar zum Teil hervorragende Einführungstexte zu den adaptierten Werken verfasst hat, in der Ausrichtung der Beiträge jedoch den roten Faden vermissen lässt.ExperimentierfeldNeben Beiträgen, in denen die Vorlage in die Gegenwart verlegt (z. B. Peter Kupers Adaption von Jonathan Swifts Ein bescheidener Vorschlag) oder die Sprache über alle Maßen an das Heute angepasst wird (Vicki Nirino Die Frau mit den zwei Futen), stehen solche, die stur die literarische Vorlage bebildern.Doch vielleicht besteht der rote Faden ja auch darin, bildungsbürgerliche Haushalte, die dem Medium Comic noch immer skeptisch gegenüberstehen, mit dem literarischen Kanon zu locken und ihnen mit The Graphic Canon ein Comiclesebuch schmackhaft zu machen, das trotz aller ästhetischen Abstriche einen Überblick über die erzählerischen Möglichkeiten des gegenwärtigen Comics liefert: In J. T. Waldmans Interpretation des alttestamentarischen Buches Esther etwa, die mit avantgardistischen Panelformen spielt und in deren Bilder rabbinische Kommentare zum Text eingeflossen sind.Oder Seymour Chwasts eigenwillige Umsetzung von Dantes Göttlicher Komödie, in der die Strafen der Hölle in ihrer Absurdität deutlich werden. Oder Caroline Picard und ihre Interpretation des Inka-Schauspiels Apu Ollantay, das sich trotz des reduzierten Schwarz-Weiß-Stils mit einigen Farbtupfern in die mystische Welt der Inkas einzufühlen weiß. Zu entdecken gibt es viel.Den Ton einer literarischen Vorlage zu treffen und dieser etwas Eigenes in Bildern hinzuzufügen, ist eine große Kunst. Etwas mehr Mut zum Experiment hätte man dem Buch manchmal gewünscht, den Mut der Zeichner, tatsächlich eine eigene Interpretation der Vorlage zu liefern. Dennoch ist der Graphic Canon als Experiment ein bewundernswertes Projekt, das eine Spielwiese schafft, auf der sich junge Zeichnerinnen und Zeichner an unterschiedlichsten Werken und Stilen erproben können.The Graphic Canon lädt ein, sich selbst ein Urteil zu bilden über die Ästhetik des gegenwärtigen Comics. Und auf Zeichner zu stoßen, die mit eigenen Werken womöglich auch eines Tages zum Kanon gehören werden.