Markus Lee kann den Tod seiner Schwester Ira nicht verwinden. Sie hat sich in der Garage ihres Hauses in Hamburg-Wellingbüttel das Leben genommen. Der Ich-Erzähler allerdings war in Mirko Bonnés viertem Roman Nie mehr Nacht auch vor dem Tod seiner Schwester nicht gerade das, was man als glücklich bezeichnen würde.
Über seinen Freund Kevin Brennicke sagt er zum Beispiel, er sei „die einzige heitere Existenz, die ich in meinem Bekanntenkreis ertrug“. Und sein Leben erzählt Markus so, als fehle ihm ein innerer Antrieb und eine Richtung. „Eine Zeit lang hatte ich mit drei Freunden zusammengewohnt, später waren es zwei, dann nur noch einer. Als der letzte zu seiner Freundin zog, sah auch ich mich nach einer Mitbewohnerin um.“ Wobei
n um.“ Wobei es dann mit den „Mitbewohnerinnen“ ähnlich weitergeht: „Mal wohnte ich bei einer Frau, mal zog eine Freundin zu mir. Gemeinsam umgezogen war ich nie.“Dann aber erhält Markus den Auftrag, für das Magazin St:art Brückenruinen zu zeichnen, die während der Invasion der Alliierten in der Normandie zerstört wurden. Kevin ist Art-Direktor der Zeitschrift, die Zeichnungen sollen eine große Geschichte zum D-Day illustrieren. Zufälligerweise will auch Jesse, Iras 15-jähriger Sohn, der seit dem Tod seiner Mutter bei seinen Großeltern lebt, zur gleichen Zeit in die Normandie. Während der Sommerferien wohnt dort sein bester Freund mit seinen Eltern. Sie sollen das leerstehende Gebäude des Seehotels „Angleterre“ hüten, und Markus und Jesse können in einem der vielen leerstehenden Zimmer wohnen.Die Fahrt nach Frankreich stellt sich jedoch als schwierig heraus. Im Auto geraten Jesse, der seinen Onkel spöttisch nur „Marky Mark“ nennt, und Markus aneinander. Ganz egal worum es geht, Jesse lässt sich immer erst nach langem Streit auf einen Kompromiss ein. Und auch Markus ist in der Wahl der Musik so kompromisslos, als wäre er nicht Ende 40, sondern ein pubertierender 15-Jähriger.Nach diesem recht dramatischen Anfang, der zu den gelungensten Teilen des Buches gehört, spielt Jesse allerdings keine Rolle mehr. Wichtiger für den weiteren Verlauf des Buches ist, dass nach der Ankunft der beiden im „Angleterre“ plötzlich eine Frau auf einem Foto auftaucht, die exakt wie Markus’ Schwester Ira aussieht. Er bekommt heraus, wer sie ist, er beobachtet sie heimlich, aber er trifft sich nicht mit ihr. Als im Herbst alle außer ihm das Hotel verlassen haben, trennt er sich Stück für Stück von seinen Habseligkeiten. Am Ende stellt Markus überrascht fest, dass er sich eigentlich umbringen will und dazu die Werkstatt des Hotels so ausräumt, dass sie wie die Garage aussieht, in der seine Schwester starb.Von dieser Absicht überrascht ist auch der Leser von Nie mehr Nacht, denn Markus Lee bleibt bis zum Ende eine undurchsichtige Gestalt. Vielleicht ist die fehlende Distanz durch die Identität von Held und Ich-Erzähler einer der Gründe für diesen Leseindruck.Man fühlt sich bei der Lektüre dieses Romans wie in einem Zug, aus dem man während einer langen Fahrt aus dem Fenster schaut – nicht gelangweilt, weil die Landschaft immer wieder Neues zu bieten hat, aber auch nicht gefesselt, weil alle Eindrücke oberflächlich bleiben. Rätselhaft bleibt bis zum Schluss auch Markus Lees Verhältnis zu seiner Schwester. Man ahnte zwar, dass die beiden ein inzestuöses Verhältnis hatten. Aber Mirko Bonné beschreibt die Beziehung des Bruders zur Schwester wie etwas Heiliges, Unberührbares, so, wie man als Betroffener wahrscheinlich auch empfindet.Es stellt sich die Frage, ob Mirko Bonné überhaupt einen Roman über das Thema Geschwisterliebe schreiben wollte. Oder ob es ihm nicht vielmehr um ein romantisches Lebensgefühl ging. Hierfür spricht nicht nur das Faible des Helden für die romantische Kunst des 19. Jahrhunderts, vor allem für Philipp Otto Runge. Auch das Happy End des Romans weist darauf hin. Ein Happy End ist ja gewöhnlich ein Endpunkt, eine Aufhebung der Widersprüche, nach dem es eigentlich nicht mehr weitergehen kann.Das „Angleterre“, das Markus Lee am Ende allein bewohnt, scheint dafür leider nur die schöne Kulisse. Und mit den Retro-Autos aus den achtziger Jahren, die mit genauer Typenbezeichnung Erwähnung finden, gerät das Buch nah an die gegenwärtige Strategie der Werbung, in der es ja auch nicht mehr primär um das Produkt geht, sondern darum, ein Lebensgefühl zu inszenieren.Das alles ist sehr schade, denn der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer Mirko Bonné hat ohne Zweifel großes erzählerisches Talent. Doch am Ende dieser mäandernden Lesereise hat man dann doch viel zu lange aus dem Fenster geschaut.